Ermittlungen laufen auf Hochtouren, um einen erneuten Anschlag zu verhindern. Laut Psychologen scheint der Täter sich bei jedem Akt zu steigern.
Paris. Patrouillen, Kontrollen, ängstliche Blicke: Nichts ist mehr so wie es war in Toulouse. Am Montag hat ein eiskalter Serienkiller einen Lehrer und drei Kinder vor einer jüdischen Schule erschossen. Spezialisten der Geheimdienste, der Polizei und des Militärs sind vor Ort, um dem Mann auf die Spur zu kommen. Es gilt die höchste Anti-Terror-Alarmstufe, schwer bewaffnete Patrouillen kontrollieren in den Straßen verdächtige Gepäckstücke. Über der Stadt kreisen Helikopter, berichten Augenzeugen vor Ort. Kriminologen und Psychologen warnen vor weiteren Morden des Unbekannten, der in den vergangenen Tagen auch schon drei Soldaten getötet haben soll.
+++Toulouse: Täter trug Videokamera um den Hals+++
+++Europaweit Bestürzung über Anschlag auf Kinder in Toulouse+++
In der südfranzösischen Metropole mit dem europäischen Flugzeughersteller Airbus als größtem Arbeitgeber ist auch die deutsche Gemeinde mit ihren Einrichtungen betroffen. Schüler werden in den Pausen auch in der Deutschen Schule nicht mehr auf den Schulhof gelassen – eine Vorsichtsmaßnahme, um eine Wiederholung der schrecklichen Bluttat zu vermeiden. „Wir haben am Montag viele besorgte Anrufe von Eltern bekommen, die ihre Kinder von der Schule abgeholt haben“, sagt Schulleiterin Susanne Self-Prédhumeau. Vor der Schule stehen Wachposten. Wie im ganzen Land gibt es auch dort am Dienstag eine Schweigeminute zum Gedenken an die Opfer. „Wir fühlen mit den Familien und Angehörigen, die den Verlust eines liebenswerten Menschen durch diese sinnlosen Taten zu beklagen haben“, sagt Airbus-Sprecher Stefan Schaffrath.
Die bisher eher spärlichen Erkenntnisse lassen noch wenig Rückschlüsse auf den Täter zu. Er hatte stets einen dunklen Motorradhelm auf und verschwand wieder nach einigen Sekunden. Er wird als kalt, berechnend und methodisch beschrieben. Er sei von einem eisernen Willen besessen, zu töten – und habe eine Minikamera vor der Brust getragen, sagt Innenminister Claude Guéant. „Die gemachten Bilder kann man sich ansehen oder sie verbreiten“, meinte er. Bei der Kamera soll es sich um einen Typ handeln, wie ihn Extremsportler benutzen. Allerdings seien bisher nirgendwo Fotos oder Videos aufgetaucht, etwa im Internet. Es gebe Hinweise und mögliche Spuren, doch sei man noch weit von einer Festnahme entfernt.
+++Offenbar rassistisch motivierte Anschlagsserie in Frankreich+++
Wichtigster Anhaltspunkt ist dabei das immer gleiche Schema seiner Taten. Mit derselben Munition wie an der jüdischen Schule wurden in Toulouse vor gut einer Woche ein Fallschirmjäger von einem Unbekannten erschossen, wenige Tage später dann mussten zwei weitere Fallschirmjäger im rund 50 Kilometer entfernten Montauban ihr Leben lassen. Und auch die an der jüdischen Schule in Toulouse am Montag erschossenen drei Kinder und ein Rabbiner wurden mit denselben Projektilen ermordet. Der Täter konnte die Waffen offenbar schnell und gut bedienen. Er benutzte jeweils eine automatische Feuerwaffe mit großem Kaliber, die nicht auf legalem Wege zu erwerben ist. „Diese Waffe ist schwer und massiv“, sagte Benoit Ebel von der Polizeigewerkschaft Synergie in einem Radiointerview. Das lässt die Ermittler vermuten, dass der Täter möglicherweise einen Waffenschein besitzt und in jedem Fall ein geübter Schütze sein muss. In den Leichen der Fallschirmjäger fanden sich jeweils drei bis vier Projektile zwischen Gehirn und oberer Wirbelsäule – und schon ein einziges hätte den sicheren Tod bedeutet.
Jeden seiner Tatorte scheint er geplant zu haben, nichts überließ er dem Zufall. Auf der Munition hinterließ er weder Fingerabdrücke noch sonstige Spuren, sodass die Fahnder davon ausgehen, er sei sehr bedacht vorgegangen und habe seine Tat in Plastikfolie gehüllt vorbereitet. Die technische Kenntnis von Waffen lässt die Ermittler auf einen Täter aus dem soldatischen Umfeld schließen. Laut französischer Medienberichte würde dabei ein Trio aus dem Tatort Montauban genauer untersucht, das schon 2007 durch Fotos aufgefallen war, auf denen sich die drei Männer in Nazi-Flaggen hüllten. Einer von ihnen ist inzwischen bei den französischen Gebirgsjägern, ein weiterer arbeitete bis vor kurzem in einem Restaurant in Montauban, dem Unglücksort. Zu dem dritten fehlt jede Spur, sie soll nun laut den Ermittlern wieder aufgenommen werden.
Nun kann sich die Polizei auf mehrere Videobänder stützen: Der Pausenhof der jüdischen Schule wurde ebenso überwacht wie einige Plätze und Straßen, die der Täter auf seiner Anfahrt und seiner Flucht benutzt haben muss. Außerdem, so die Zeitung „Le Parisien“, werden die Ermittler die gespeicherten Daten von Mobilfunkanbietern auswerten. So soll geklärt werden, ob der Mann möglicherweise Telefongespräche mit potenziellen Mittätern führte.
Die Opfer stehen so unter Schock und der Täter handelte so schnell, dass ihre Beschreibungen sehr vage sind. Übereinstimmend sagen die Zeugen, dass es sich offenbar um einen Mann mit weißer Hautfarbe handeln soll. Aber schon bei der Farbe seines Fahrzeugs erinnern sich einige an einen weißen, andere wiederum an einen schwarzen Motorroller. Anhand der Videoaufnahmen aber konnte die Polizei den Roller inzwischen identifizieren. Er soll vor kurzem in Toulouse gestohlen worden sein.
Nun gilt es, eine erneute und möglicherweise noch verheerendere Tat zu verhindern. Laut Meinung von Kriminalpsychologen scheint der Kriminelle sich bei jedem Akt zu steigern. Tatsächlich wurden bei den drei aufeinanderfolgenden Attentaten jeweils mehr Menschen erschossen. Zweihundert Spezialisten der französischen Kriminalpolizei sind inzwischen in Toulouse eingetroffen. Sie müssen den Täter finden, bevor er wieder töten kann. Der Minister sagt, es habe bereits Tausende Überprüfungen gegeben, vor allem in den Reihen des Militärs. „Das ist eine Spur unter vielen, aber keine bevorzugte.“
Medien-Spekulationen ranken sich bisher um traumatisierte Afghanistan-Kämpfer, Neonazis aus den Reihen des Militärs, die unehrenhaft entlassen worden sein könnten, oder einen potenziellen Psychopathen, wie er in Norwegen mit dem geständigen Massenmörder Anders Behring Breivik zugeschlagen hat. „Norwegen hat viele Verrückte inspiriert“, meint auch der sozialistische Präsidentschaftskandidat François Hollande.
Die Bluttat hat in Frankreich eine beispiellose Welle der Solidarität und Anteilnahme ausgelöst. Die Emotionen können auch den laufenden Präsidentschaftswahlkampf beeinflussen. Die wichtigsten Kontrahenten setzten ihre Kampagnen vorübergehend aus und zeigten Präsenz. Der um seine Wiederwahl kämpfende Präsident Nicolas Sarkozy war als erster am Ort des Geschehens, er demonstrierte Betroffenheit und Entschlossenheit. Sein Herausforderer Hollande betonte „das Zusammenstehen aller Franzosen gegen eine unerhörte Aggression“ angesichts eines nationalen Dramas. Er glaubt aber nicht daran, dass irgendeine Partei dieses Drama politisch ausschlachten könne.
Am Montagabend waren Präsident und politische Herausforderer vereint in einer Pariser Synagoge beim Gedenk-Gottesdienst, am Dienstag nahmen Sarkozy wie auch Hollande demonstrativ in einer Schule an einer Schweigeminute teil. An diesem Mittwoch wollen beide den Soldaten die letzte Ehre erweisen, die von dem unbekannten Serienkiller getötet wurden. Der französische Außenminister Alain Juppé begleitet die Opfer des Anschlags bei der Überführung nach Israel. Er werde mit an Bord der Maschine sein, mit der die drei Kinder und ein Erwachsener am Dienstagabend nach Israel gebracht werden sollen, sagte ein Außenamtssprecher in Paris.
Mit Material von dpa/dapd