In den USA hat heute der Vorwahlkampf um die Präsidentschaft begonnen. Die Republikaner rücken Präsident Barack Obama in die antiamerikanische Ecke.
Hamburg. Vier Tage nach der Liquidierung des Al-Qaida-Führers Osama Bin Laden durch amerikanische Spezialeinheiten in der pakistanischen Stadt Abbottabad hielt US-Präsident Barack Obama im Mai 2011 eine Ansprache vor US-Soldaten in Fort Campbell in Kentucky. Er verwies auf die erfolgreiche Operation in Pakistan und nannte Amerikas Militär in diesem Zusammenhang "die besten Streitkräfte, die die Welt je gekannt hat".
Zwei Wochen später, am 30. Mai, lobte Obama anlässlich des Memorial Days wieder das US-Militär. Diesmal sagte er auf dem Nationalfriedhof Arlington, er sei Kommandeur "einer der besten Streitkräfte der Welt".
Diese kleine verbale Variante war eine Steilvorlage für Sarah Palin, Obamas erbitterte republikanische Gegnerin und Ikone der erzkonservativen Tea-Party-Bewegung. Palin, die noch nie im Verdacht stand, übermäßig intellektuell zu sein, fauchte auf ihrer politischen Promotion-Tour in die Mikrofone, die US-Streitkräfte seien "die besten der Welt. Nicht nur eine der besten. Und ich hoffe, dem Präsidenten ist das klar. Wie sind nicht eine von vielen. Wir sind die Besten."
Die beste Armee der Welt, gar der ganzen Weltgeschichte, also in zehntausend Jahren Zivilisation - das ist eingedenk der römischen Legionen, der persischen, griechischen, makedonischen, preußischen, napoleonischen oder israelischen Heere schon eine steile These. Aber nicht für die USA. Nach Überzeugung vieler Amerikaner ist es "gods own country", dem Gott den Auftrag gab, die Welt ins Licht zu führen.
Danach sieht es im Moment nicht aus. Der sich qualvoll hinziehende sieglose Krieg in Afghanistan, der glanzlose Waffengang im Irak, die Skandale von Guantánamo und Abu Ghraib, vor allem aber die bedrückende Finanz- und Wirtschaftskrise in den USA machen vielen Patrioten zu schaffen. Sarah Palin ist inzwischen nicht mehr das Zugpferd der Republikaner im Präsidentschafts-Vorwahlkampf, der heute beginnt. Aber Patriotismus - eine tragende Säule des "american way of life" - wird bis zur Wahl im November das zentrale Thema bleiben.
Die Herabstufung der amerikanischen Kreditwürdigkeit durch die Rating-Agentur Standard and Poor's hat mitten ins Herz dieses Nationalgefühls getroffen. Amerika wird hinter andere Nationen einsortiert - das ist ein unerträglicher Gedanke. Trotzig und wider besseres Wirtschaftswissen erklärte der US-Multimilliardär Warren Buffett, nicht nur die Herabstufung von AAA auf AA + sei völlig falsch; die USA hätten im Gegenteil die Heraufstufung auf ein AAAA verdient (das es gar nicht gibt).
Hauptsache patriotisch: Vor wenigen Monaten lobte Obama auch die Arbeiter in den amerikanischen Autowerken als "die besten der Welt". Das ist aus europäischer oder japanischer Sicht schon ein bisschen peinlich.
Aber Obama steht in dieser Hinsicht unter Druck. Man hat ihm allen Ernstes mangelnden Patriotismus vorgeworfen, etwa weil er nicht ständig eine US-Fahne am Revers trage. Und Obama sieht, wie sich bei der Republikanischen Partei derzeit Kandidaten für den Wahlkampf herausschälen, deren augenfälligstes Merkmal knochenkonservative Haltung und Ultrapatriotismus sind.
Im US-Bundesstaat Iowa entscheidet sich traditionell, welchen von sieben Politikern die Republikaner zum Präsidentschaftskandidaten ihrer Partei küren wollen. Diese Vorentscheidung erweckt manchmal den Eindruck, es gehe nicht um die Präsidentschaft, sondern um eine Pastorenstelle. Er schäme sich seines Glaubens nicht, verkündete Rick Perry, Gouverneur von Texas. Er werde im Weißen Haus "gegen liberale Angriffe auf unser religiöses Erbe kämpfen". Denn im Alter von 27 Jahren habe er ein "Loch in seinem Herzen" gespürt, das "nur von Jesus Christus ausgefüllt werden konnte".
Perrys Rivale Newt Gingrich warnt gerne vor der "säkularen Krise" in Amerika. Ein Werbespot für Ron Paul verkündet, dieser sei ein "Christ, der wirklich glaubt". Noch nie hätten Präsidentschaftsanwärter ihren Glauben so sehr in den Vordergrund gerückt, kommentierte die "Washington Post". Aktuellen Umfragen zufolge hat der Ex-Gouverneur von Massachusetts, Mitt Romney, derzeit die besten Chancen. Er vertritt "traditionelle Familienwerte". Und er ist Mormone.
Das patriotische "Leitmotiv" gab Michele Bachmann vor, Leiterin der erzkonservativen Tea-Party-Fraktion innerhalb der "Grand Old Party". Sie verdächtigte Obama des Antiamerikanismus und forderte die US-Medien auf, jedes einzelne Mitglied des US-Kongresses auf mögliche antiamerikanische Positionen zu durchleuchten. Worauf der Parteichef der Demokraten in Minnesota, Brian Melendez, zurückfeuerte: Der letzte Politiker, der mit dem Vorwurf des Antiamerikanismus derart fahrlässig umgegangen sei, sei Joe McCarthy gewesen - und Bachmann sei wohl begierig darauf, in seine Fußstapfen zu treten.
Der Republikaner Joseph McCarthy war Namensgeber der berüchtigten "McCarthy-Ära" in den 50er-Jahren, einer Zeit des aus dem Ruder laufenden fanatischen Antikommunismus mit Denunziationen und Verleumdungskampagnen. McCarthy, Vorsitzender eines inquisitionsartigen Untersuchungstribunals, nannte die Regierungszeiten der demokratischen Präsidenten Roosevelt und Truman "20 Jahre Hochverrat" und diffamierte schließlich auch den republikanischen Präsidenten und Kriegshelden Eisenhower als "verkappten Kommunisten".
Nun ist die Welle des neuen Konservatismus, die Amerika erfasst hat, Lichtjahre vom Fanatismus McCarthys entfernt. Doch die relativ kleine Bewegung der Tea Party innerhalb der Republikaner treibt nicht nur die eigene Partei vor sich her, sondern auch die Regierung und das ganze Land.
Die Tea Party bezieht ihren Namen aus der "Boston Tea Party". Am 16. Dezember 1773 hatten Bürger von Boston, als Indianer verkleidet, die britischen Schiffe "Dartmouth" "Eleanor" und "Beaver" im Hafen gestürmt und 45 Tonnen Tee der Londoner East India Trading Company ins Wasser geworfen. Es ging um Steuern und Zölle, die die britische Kolonialmacht erhob. In der Folge führte die "Boston Tea Party" zum Ausbruch des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges 1775.
Mit diesem historischen Etikett zieht die Tea Party Parallelen zum "patriotischen" Kampf gegen Willkürherrschaft und ungerechtfertigte Steuern. Nur sitzt der Feind diesmal nicht in London und heißt König George III., sondern im Weißen Haus und trägt den Namen Barack Obama.
Die hilflose Wut vieler Amerikaner angesichts des immer mächtiger werdenden Rivalen China, der wirtschaftlich zum Überholen ansetzt, oder eben auch über die Herabstufung der US-Kreditwürdigkeit speist sich aus der Tiefe der amerikanischen Seele. Denn dort ist eine Grundüberzeugung verankert: der amerikanische Exzeptionalismus, das Bewusstsein der Einzigartigkeit. Der US-Historiker Richard Hofstetter hat dazu bemerkt: "Es ist unser Schicksal als Nation, keine Ideologie zu haben - sondern eine zu sein."
1630 hatte der puritanische Prediger John Winthrop, Führer der ersten Kolonisten in der Bucht von Massachusetts, eine flammende Rede gehalten, in der es unter Bezug auf die Bergpredigt hieß: "Wir müssen bedenken, dass wir wie eine Stadt auf dem Hügel sein sollen - die Augen aller Menschen richten sich auf uns." Präsidenten wie John F. Kennedy und Ronald Reagan verwendeten das Bild dieser strahlenden "Stadt auf dem Hügel", eines neuen Jerusalems, in ihren Reden. Reagan erklärte im Januar 1974: "Wir waren, und wir sind noch heute, die letzte, beste Hoffnung des Menschen auf der Erde". Für viele Republikaner ist der Exzeptionalismus gleichbedeutend mit Überlegenheit.
Winthrops Puritaner waren davon überzeugt, dass Gott einen ganz besonderen Vertrag mit ihnen geschlossen und ihnen den Auftrag erteilt habe, die übrigen Nationen der Welt zu führen.
Aber auch jene in den USA häufig zu findende Kombination aus tiefer Religiosität und eiskaltem Geschäftssinn geht auf die puritanischen Gründerväter zurück. Das zugrunde liegende calvinistische Credo lehrt, ökonomischer Erfolg durch Fleiß sei ein Zeichen für Auserwähltheit und göttlichen Gnadenstand. Nun war Calvin ein religiöser Fanatiker, der in Genf einen intoleranten Gottessstaat errichten und Andersdenkende grausam hinrichten ließ. Thomas Jefferson, dritter Präsident der USA und ein aufgeklärter Geist, schrieb über Calvin, seine Religion sei purer "Dämonismus" gewesen.
Von der calvinistischen Intoleranz hat sich Amerika nicht anstecken lassen. Aber Calvins Geist überlebt heute ein wenig in der Unbekümmertheit, mit der amerikanische Selfmademillionäre ihren Reichtum zur Schau stellen. Es ist nicht nur Eitelkeit, es ist die Aufforderung, es ihnen gleichzutun: "Ihr könnt es auch schaffen - ihr müsst euch nur richtig Mühe geben."
Puritanischer Geist lebt auch in dem auf Kontinentaleuropäer heuchlerisch wirkenden Umgang mit Sexualität in den USA. Dass der frömmelnde Republikaner George W. Bush, ein ehemaliger Trinker, einen Krieg völkerrechtlich illegal und einen weiteren zumindest umstritten anzettelte, dass er die Staatsfinanzen und das Ansehen der USA zerrüttete, konnte die Zuneigung der Republikaner nur wenig schmälern. Seinen Vorgänger Bill Clinton jedoch wollten sie gleich des Amtes entheben, weil er sich einer Praktikantin gegenüber zu aufgeschlossen zeigte. Bushs erzreaktionärer Justizminister John Ashcroft ließ sich erst vor einer Statue der Göttin Justitia ablichten, als man ihren Busen abgedeckt hatte. Dass Ehefrau und Geliebte einträchtig am Grabe eines Präsidenten stehen wie beim Franzosen François Mitterrand, wäre in den USA "beyond the pale" - jenseits der Zivilisationsgrenze.
Aber unter dem dünnen Firnis der Prüderie genießen Amerikaner saftige Details mindestens ebenso wie andere Nationen. In den USA immerhin konnte der "Playboy" schon zu einer Zeit erscheinen, in der solche Magazine anderenorts höchstens unter dem Ladentisch zu haben waren.
Patriotismus, Geschäftssinn und Gläubigkeit sind wichtige Bestandteile des amerikanischen Wertekanons. Der wichtigste jedoch ist Freiheit. Amerika - das war die erste, größte und erfolgreichste Emanzipation von staatlicher Willkür. Der erbitterte Widerstand der Republikaner - namentlich der Tea Party - gegen die von Obama eingeführte, staatlich abgesicherte Gesundheitsversicherung für Bedürftige rührt aus diesem Freiheitsverständnis her. Jeder Amerikaner hat demnach die Freiheit, sein Leben ohne Bevormundung selber zu gestalten. Das ist der Kern des "American Dream" - des Traums vom Glück aufgrund eigener Leistung. Wenn jemand es nicht schafft, sich selber abzusichern, ist das bedauerlich, aber letztlich sein Problem.
Viel Freiheit, wenig Staat, vor allem wenig Steuern - diese Forderungen befeuern die Tea-Party-Revolte. Ihr Programm ist eine blindwütige Trotzreaktion auf die Globalisierung, deren Herausforderungen sich verändern wie Sandbänke in einem Fluss. Dabei stoßen ihre hartleibigen Positionen zunehmend auf den Widerstand der Realität. Das sich längst abzeichnende Modell einer multipolaren Welt etwa, in der die USA nur noch einer von mehreren großen Akteuren sind, torpediert den "Exzeptionalismus" und wird daher von vielen Republikanern erbittert abgelehnt. Auch Steuererhöhungen, zu deren Ablehnung im Kongress sich die Konservativen schriftlich verpflichtet haben, dürften mittelfristig kaum vermeidbar sein, wenn sich die USA in ihren Ausgaben nicht dramatisch einschränken wollen.
Die Amerikaner seien "ein sehr sentimentales Volk, das unter seinem ganzen Realismus sehr anfällig ist für idealistische Ideen", hat der US-Historiker Gordon A. Craig (1913-2005) gesagt. Und doch: Bislang hat amerikanischer Pragmatismus noch jedes Mal über Ideologisches obsiegt. Dieser Pragmatismus - auch ein traditioneller amerikanischer Wert - wird heute in der "Grand Old Party" wieder dringend gebraucht. Möglicherweise hat der zuletzt gewaltige Einfluss der Tea Party seinen Höhepunkt schon überschritten. Auch immer mehr Republikanern dämmert es, dass sich die Probleme von Gegenwart und Zukunft mit derart fundamentalistischen Positionen wohl kaum lösen lassen.