Die Proteste kommen reflexartig. Ob die Parlamente in Schweden oder den USA den Völkermord an den Armeniern 1915 verurteilen oder ob Filme darüber ins Kino kommen: Türkische Regierungsvertreter reagieren empört, drohen mit diplomatischen Sanktionen. Auch die Türkische Gemeinde in Deutschland (TGD) wird nicht müde zu betonen, die Bezeichnung Völkermord werde "von unserer Seite nicht akzeptiert, solange ein anerkanntes internationales Gericht dies nicht festgestellt hat". Nach offizieller türkischer Lesart hatte die damalige Regierung unter dem Triumvirat Talaat, Enver und Cemal Pascha im Ersten Weltkrieg lediglich auf armenische Aufstände reagiert. Bei den Verhaftungswellen und Deportationen der Armenier 1915 bis 1917 wurden zwischen 800 000 und 1,5 Millionen Menschen getötet.
Offenbar ist die TGD aber nicht mehr auf dem letzten Stand. Denn die sture Abwehrfront gegen alles, was nach Völkermord-Diskussion riecht, bricht auf.
Zum Gedenktag am 24. und 25. April findet in Ankara jetzt zum ersten Mal ein Symposium mit türkischen und armenischen Teilnehmern statt, das sich mit der Geschichte des Genozids und seinen Wurzeln in der "Türkisierung" befasst. In Istanbul sollen erstmals mehrere große Kundgebungen und Gedenkveranstaltungen an das Geschehen erinnern. Der türkische Anwalt Bendal Dschelil Esman beantragte Anfang April ein posthumes Strafverfahren wegen Völkermords gegen Talaat Pascha, den "Architekten" des Vernichtungsplans.
Auch in Hamburg wollen armenische, assyrisch-aramäische, türkische und kurdische Vertreter am Sonnabend um 20 Uhr in St. Petri zusammen an die Verfolgung der Minderheiten erinnern.
Der wichtigste Wegbereiter für dieses Umdenken war der armenisch-türkische Journalist Hrant Dink, der am 19. Januar 2007 von einem Nationalisten in Istanbul ermordet wurde. "Ohne Dinks beharrliche Vorarbeit würde die Türkei heute nicht über eine Normalisierung des Verhältnisses zu Armenien diskutieren und über eine Verbesserung der Situation für die Christen in der Türkei", sagt der Grünen-Vorsitzende Cem Özdemir, ein Freund von Hrant Dink. "Er hat die menschliche Dimension in die Diskussion eingeführt und viele Menschen verändert."
Dink setzte sich in seinen Kolumnen in der Zeitung "Agos" für eine gemeinsame Aufarbeitung der Geschichte ein. "Die Armenier in der Türkei leiden unter einem tiefen Trauma. Und die Türken leben in einer Paranoia. Beides ist nicht gesund, beides führt uns nicht zu einer Lösung", schrieb er.
Niemand hatte mit der gewaltigen Solidaritätsbewegung bei seiner Beerdigung gerechnet. Rund 100 000 Menschen beteiligten sich an dem acht Kilometer langen Trauerzug, viele mit Transparenten "Wir sind alle Hrant Dink" und "Wir sind alle Armenier". 2008 unterschrieben knapp 30 000 Menschen in der Türkei eine Internet-Petition, die das armenische Volk um Verzeihung bat.
"Man traut sich heute, so etwas zu sagen wie 'Wir sind alle Armenier'", sagt Erika Steinbach, Sprecherin der CDU/CSU-Bundestagsfraktion für Menschenrechte. "Die kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte, die unter türkischen Intellektuellen begonnen hat, ist ein zartes Pflänzchen, das noch wachsen muss." Es sei "ein Irrtum zu glauben, ein solches Ereignis könnte verschwiegen werden. Es bleibt so lange virulent, bis es offen diskutiert wird."
Genau das geschieht - als "Geschichtsschreibung von unten". Initialzündung war 2004 ein Buch der Anwältin Fethye Cetin über das Schicksal ihrer Großmutter, die nach der Ermordung ihrer Eltern als armenische Waise türkisiert wurde und in einem muslimischen Haushalt aufwuchs. "Es gibt immer mehr türkische Autorinnen und Autoren, die in ihrer eigenen Familiengeschichte nachforschen", sagt Abut Can von der Hamburger Landeszentrale für politische Bildung. "Viele schreiben über die Mittäterschaft ihrer Großväter, zum Beispiel Hasan Cemal, der Enkel von Cemal Pascha. Der Politiker Ahmet Türk entschuldigte sich öffentlich für die Vergehen seiner Großeltern." In den Familien werde viel mehr über das Thema geredet als in der Öffentlichkeit, sagt Can. Es sind Diskussionen wie in deutschen Familien, als viele Enkel fragten: "Opa, warst du Nazi?"
Auch die Aufdeckung der Putschpläne der ultranationalistischen Organisation Ernegekon 2009 hat vielen Türken die Augen geöffnet. Ernegekon steht im Verdacht, für die Morde an christlichen Missionaren und an Hrant Dink mitverantwortlich zu sein. Ziel der Vereinigung war eine von Generalen gesteuerte türkische Politik, von Minderheiten unbeschwert. Letzteres war auch das Ziel der jungtürkischen Nationalbewegung, die die Vertreibung und Beseitigung von Minderheiten in der Zeit des Ersten Weltkriegs organisierte. Deshalb hatte "der Völkermord an den Armeniern eine grundlegende Bedeutung für die Gründung der Republik", schreibt der in den USA lehrende türkische Historiker Taner Akcam. Die heutige Weigerung der Regierung sowie vieler Anhänger Kemal Atatürks, den Völkermord anzuerkennen, sei reine Abwehr: Der Nationalstolz, der Gründungsmythos der Türkei sollen nicht "kontaminiert" werden.
Cem Özdemir aber ist optimistisch: Über etliche Tabus - etwa das Pogrom an der griechischen Minderheit 1955, über die Kurdenfrage oder die Anerkennung der Aleviten - gebe es heute kritische Berichte und heftige Debatten in der Öffentlichkeit. "So arbeitet sich die Türkei langsam an das Jahr 1915 heran."