Der Fotograf Alberto Giuliani hat hinter die Kulissen der Mafia geblickt und den italienischen Alltag entdeckt.
Einige Grenzen sind fließend in dieser fürchterlichen Geschichte, die der Fotograf Alberto Giuliani erzählt. Es gibt ebenso undurchdringliches, finsterstes Schwarz, wie es strahlendes Heldenweiß gibt. Und dennoch stößt man auf viele Grauzonen in jenem Italien, über das Giuliani sagt, er würde es nicht mehr als demokratisches Land bezeichnen. In dem Italien, für das sich der 34-jährige Mailänder schämt, obwohl er sein Vaterland liebt.
"Ich kann wirklich nicht verstehen", sagt er, "wieso die Menschen so etwas akzeptieren, warum wir diese Politik zulassen - und ich rede nicht von Berlusconi, Linke oder Rechte tun sich da nichts. Es gibt niemanden, der etwas Vertrauenswürdiges oder Wahres sagen könnte. Wir alle, ich eingeschlossen, haben uns so sehr daran gewöhnt zu sagen: Okay, wir finden irgendeinen Weg. Es gibt keine Regeln."
Beim Blättern durch Alberto Giulianis Bildband "Malacarne" in einem kleinen italienischen Lokal in der Hamburger Innenstadt sieht man nur Schattenseiten. Nur Verlierer, nur Verlorene; Elendsviertel und Handlanger der gutbürgerlichen Bosse. Das Festhalten an Ehre, der gottesfürchtige Glaube, die unzerstörbaren Wurzeln in der Tradition der Familie. Man sieht einen Teil des italienischen Alltags, das Leben mit der Mafia.
Kommentiert werden Giulianis Bilder durch Milieu-Reportagen von Experten wie dem mutigen Autor Roberto Saviano ("Gomorrha"), der den strengen Moralkodex von Mafia-Familien beschreibt. "Der Richter Giovanni Falcone hat gesagt: ,Die einzige Hoffnung, die wir haben, liegt in den Frauen der Mafia'", meint Giuliani. "Sie seien die Einzigen, die ihren Kindern ein anderes Leben als das ihrer Väter beibringen könnten."
Auch Rita Borsellino, Schwester des 1992 ermordeten Richters Paolo Borsellino, fällt ein vernichtendes Urteil über das Verhältnis der Politik zur Mafia. Ein Staatsanwalt warnt vor der kalabresischen 'Ndrangheta.
2007, nach einem eher zufälligen Besuch des mythenbeladenen sizilianischen Städtchens Corleone, hat Giuliani begonnen, hinter die Kulissen der allgegenwärtigen Verbrechen zu gehen. Dorthin, wo man die Details sehen muss, um das Unheil wenigstens ansatzweise zu verstehen. Zuvor hatte Giuliani sich für Zeitschriften und Zeitungen vor allem mit sozialen Missständen in aller Welt beschäftigt.
Die Mafia ist Italiens größter Konzern
"Es wäre einfach, aber zu einfach, ein Buch zu machen, das nur sagt: Die Mafia ist schlecht", meint Giuliani. "Wir sollten stattdessen versuchen, mehr zu verstehen. Alle Seiten sind mit verantwortlich. Man muss das Mafiasystem als eine schlechte Kultur darstellen."
"Malacarne" beginnt mit einer wütenden Klageschrift von Roberto Saviano über einen Mord in Neapel. Ein Mann wurde dort beiläufig von einem Camorra-Killer hingerichtet, auf offener Straße, eine Überwachungskamera filmte mit. Viele sahen es, niemanden kümmerte es. Saviano und Giuliani kennen sich; der Autor, der seit Jahren in Verstecken lebt, hat in Italien Lesungen zu Giulianis Fotos abgehalten. 2008 nahmen alle Mafia-Organisationen des Landes nach offiziellen Schätzungen knapp 150 Milliarden Euro ein, umgerechnet neun Prozent des italienischen Bruttoinlandsprodukts. So gesehen, wäre die Mafia das bedeutendste europäische Wirtschaftsunternehmen.
Als schreibender Journalist undercover auf Mafia-Territorium unterwegs zu sein, das stellt man sich auf dieser, der nur vermeintlich sicheren Seite der Alpen sehr kompliziert und riskant vor. Aber mit einer Kamera, die früher oder später sichtbar wird, müssten solche Exkursionen doch viel gefährlicher sein? Waren sie eigentlich nicht, erklärt Giuliani. Seine Fotomotive fühlten sich auch nicht etwa geehrt durch seine Anwesenheit. Sie hätten oft schlichtweg nicht gewusst, warum sie abgelichtet werden. "In Italien kann man bei vielen Dingen dabei sein, wenn man als der Freund eines Freundes zugelassen wird. So kann man sich auch in diesen Kreisen gut bewegen, dann ist man in gewisser Weise sicher. Doch sobald man in Mafia-Situationen erkennt, dass es gefährlich ist, ist es schon zu spät. Man muss immer sehr gut zuhören. Sagt dir jemand: Mach das nicht, heißt das: Mach das nicht."
Für Giuliani sind die Ursachen in Italiens nationaler Tragödie sehr komplex und ganz einfach zugleich. Er ist dabei ein Beobachter, obwohl der Begriff Kriegsreporter angesichts der Schonungslosigkeit des Erlebten sehr nah an der eigentlichen Wahrheit ist.
Mord bedeutet Schutz
Egal, von welcher regional unterschiedlichen Mafia-Struktur man spricht, egal, ob Cosa Nostra, 'Ndrangheta oder Camorra - sie alle sind für Giuliani Symptome eines fundamentalen kulturellen Dilemmas. "In einigen Gegenden haben die Menschen keine andere Wahl. Wenn man dort aufwächst, ist das einfach die Kultur, in der man aufwächst. Sie ist keine Entschuldigung", betont er, "sie ist eine Realität. Und wenn wir dieses Problem lösen wollen, müssen wir verstehen, warum so viele in Verbrechen verwickelt sind."
Auf einem seiner Fotos ist eine Greisin zu sehen, die Mutter eines Mannes, der ermordet wurde. Als Frau eines 'Ndrangheta-Mitglieds war ihr klar, dass alle wussten, wer ihren Sohn umgebracht hat, und auch, dass niemand reden würde. Zwei Jahre lang, erzählt Giuliani, hätte sie eigenmächtig nach den Tätern gesucht. Am Ende kam heraus, dass es seine drei besten Freunde waren. Alles, was sie von ihrem Sohn noch fand, war ein Schlüsselbeinknochen, und sie sagte: Ich bin eine glückliche Mutter. Andere Mütter ermordeter Söhne hatten nichts außer ihren Erinnerungen. Er musste sterben, weil er ein Verhältnis mit der jungen Frau eines alten Mafia-Bosses hatte. Sein Tod war nicht vom gehörnten Ehemann beschlossen worden, der saß da gerade im Gefängnis. "Es war das System selbst", so Giuliani, "um sich zu schützen."
Jedes gedruckte Bild verdrängt auch die bedrückenden Geschichten vieler anderer, die nicht im Buch enthalten sind. Die Geschichte über das Dorf, in dem er sich an einem Morgen wie im Mittelalter fühlte, ist eine davon. Dort war ein Mord passiert. Giuliani fuhr hin, machte seine Fotos. Wenig später passierte dort ein zweiter Mord. Er fuhr wieder hin und fand sich in einer Geisterstadt wieder. Auf dem Marktplatz standen sich zwei Reihen Männer gegenüber, wie Soldaten. Niemand rührte sich. Es gab nur Blicke. Giuliani war zwischen die Fronten verfeindeter Familien geraten. Nach der zweiten kleinen Handbewegung hatte er verstanden. Der zweite Mord war in diesem Mikrokosmos der Gewalt nötig gewesen, um zu klären, wieso der erste passiert war. Giuliani stand im Weg.
Viele Italiener geben sich längst keinerlei Illusionen über die Macht der Mafiosi hin, die Situation hat sich in den letzten Jahren nicht verbessert, findet Giuliani, sondern lediglich verändert. "Es gibt zwar weniger Tote - in den 70ern waren es in Palermo mehr als 1000 jährlich, also etwa drei pro Tag.
Jetzt ist das ganz anders. Hier und da bringt die Camorra noch Menschen um, weil ihre Strukturen das notwendig machen. Aber warum wird insgesamt weniger getötet? Nicht weil die Polizei oder die Regierung etwas geändert hätten. Der Mafia ist ein entscheidender Sprung nach vorn gelungen: Sie steht nicht mehr nur in einer engen Beziehung zu Politik und Wirtschaft, sie ist jetzt ein Bestandteil von Politik und Wirtschaft. Die Mafia benötigt das Blut auf der Straße nicht mehr. Der Krieg findet nicht mehr in den Straßen von Palermo statt, sondern in St. Petersburg oder Brüssel, Hamburg, Kapstadt oder Toronto. Die Gefahr ist jetzt eine andere. Die Organisationen sind viel stärker und cleverer als früher."
Schuld und Sühne
Wie sehr sich die Zeiten geändert haben, beweist auch die Tatsache, dass Domenico Strangio sich bei Giuliani meldete, um ihm ein Interview anzubieten. Er wollte öffentlichkeitswirksam die Unschuld seines Sohnes Giovanni beteuern, der seit einigen Tagen wegen der Mafia-Morde 2007 in Duisburg vor einem kalabresischen Gericht steht.
Bei der Beschäftigung mit der Mafia ist Giuliani immer wieder mit den archaischen Regeln konfrontiert worden, die sich über Jahrhunderte gebildet haben; mit Blut geschriebene Regeln, die einen ganz eigenen Moralkodex bilden. In einem Gefängnis kam es zu einem Gespräch mit Mafiosi über die großen Themen Schuld und Sühne. Wie lassen sich die vielen Morde mit dem katholischen Glauben vereinbaren? Die Antwort der Häftlinge auf Giulianis Fragen war, aus ihrer Sicht jedenfalls, ganz einfach: "Wenn wir Gott begegnen, dann wird er entscheiden, nicht du."
Zum Konzept der Reihe, in der Giulianis Bildband erscheint, gehört es, die Fotos mit thematisch passender Musik zu ergänzen. Dass sich im hinteren Teil von "Malacarne" zwei CDs mit traditionellen Folklore-Liedern befinden, die im ländlichen Dialekt das Leben und Sterben der 'Ndrangheta-Mitglieder verklären, wirkt zunächst wie ein makabrer Scherz. Er sei am Anfang auch sehr gegen diese "canti di malavita" gewesen, klärt Giuliani diesen Widerspruch auf, es habe große Diskussionen gegeben. Doch dann änderte ein Polizeifoto seine Meinung. Es entstand in dem Fluchtwagen von fünf Bankräubern und zeigt neben Skimasken, einer Pistole und Munition auch eine CD. "Mix 'Ndrangheta" steht darauf. Die Mafiosi haben sich auf dem Weg zum Tatort an ihren eigenen Lobliedern berauscht, haben sich den nötigen Mut ansingen lassen.
"Diese Musik gefällt mir nicht", stellt Giuliani klar, "doch sie hilft beim Verstehen. Wenn Verbrechen besungen werden, muss es einen Grund dafür geben." Die Verachtung für die Räuber-Balladen kann er nachvollziehen, "aber diese Einstellung bringt einen nicht weiter. Man muss alle Perspektiven kennen." Giuliani will nun auch die Arbeit der italienischen Mafia-Bünde im Ausland dokumentieren. Das wird viel schwieriger, so viel ist ihm jetzt schon klar. Aber der Sohn einer Argentinierin kann von diesem Thema offenbar nicht lassen, egal, wie unwahrscheinlich die Chancen auf einen Sieg auch sein mögen. "Ich habe einmal einen Richter nach seiner Einschätzung gefragt, der an der Verhaftung des Cosa-Nostra-Bosses Provenzano aus Corleone mitgearbeitet hat. Er meinte: ,Wenn wir Glück haben, mit den richtigen Gesetzen und guter Arbeit - in 200 Jahren.'"
Bevor wir uns verabschieden, zeigt er auf seinem Laptop einige Bilder, die ihm kürzlich zugespielt wurden. Bilder von einer Hochzeit innerhalb mächtiger Mafia-Clans, die auch Szenenfotos aus "Goodfellas" oder der "Pate"-Trilogie sein könnten. Kitschig sind sie, gutbürgerlich und rührselig. Und wahr, immer noch.
Buch: Alberto Giuliani "Malacarne. Leben mit der Mafia", Edel earbook, 120 S. + 2 CDs, 30 Euro