Den Haag. Als Radovan Karadzic seine Verteidigungsrede beendet hat, springt in der ersten Reihe rechts im Zuschauerraum eine junge Frau von ihrem Stuhl. Sie winkt Karadzic durch die Panzerglasscheibe zu, macht Siegesgesten. "Ich bin sehr stolz auf ihn", sagt die Frau, die offenbar zur Familie gehört, ihren Namen aber nicht nennen will. "Einen gerechten und heiligen Krieg" habe er geführt, hatte Karadzic zuvor das Gericht wissen lassen. Und damit Bosnien "gegen islamische Fundamentalisten verteidigt".
Ein paar Reihen weiter sitzt Munira Subasic mit sieben anderen Frauen. Sie alle trauern um Söhne, Ehemänner, Brüder. Munira hofft noch immer, 15 Jahre nach Srebrenica, die Knochen ihres Sohnes zu finden. Er war damals 18. "Karadzic bleibt ein Lügner", sagt sie. "Und er ist stolz darauf. Er hat mich heute genauso gedemütigt wie vor 15 Jahren." Dass der ehemalige Führer der bosnischen Serben je die Wahrheit über seine mutmaßlichen Verbrechen sagen werde, glaubt die 62-Jährige nicht.
Mit monatelanger Verzögerung wurde gestern am Uno-Tribunal für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag der Prozess gegen Radovan Karadzic fortgesetzt. Im Mittelpunkt steht der grausamste Völkermord, den Europa seit dem Holocaust erlebt hat: Das Massaker an etwa 8000 muslimischen Männern und Jungen im bosnischen Srebrenica im Juli 1995.
Der Angeklagte legte dem Gericht dazu "seine Sicht der Wahrheit" dar, wie Anwalt Peter Robinson erklärte. Und diese Wahrheit sieht so aus: Karadzic als Präsident der bosnischen Serbenrepublik wollte die Einheit Jugoslawiens und damit den Frieden auf dem Balkan retten. Doch eine Gruppe muslimischer Radikaler in der SDA, der Partei des damaligen bosnischen Präsidenten Alija Izetbegovic, plante, den Balkan für arabische Fundamentalisten zu öffnen. "Unter Schmerzen" hätten die Serben nach 1990 einer Aufteilung Bosniens zugestimmt. "Wir wollten nie Krieg, den wollten nur die anderen."
Die anderen, das ist Karadzic zufolge neben den radikalen Bosniern der Westen - vor allem die Deutschen, die USA und die Nato. Die Versprechen des damaligen deutschen Außenministers Hans-Dietrich Genscher an die Kroaten hätten den Bürgerkrieg ausgelöst. Deutschland habe gegen den Willen anderer EU-Staaten die sich unabhängig erklärenden Länder des Balkans anerkannt - und sich damit späte Genugtuung für seine Niederlage im Zweiten Weltkrieg verschafft. Heute versuche das Uno-Gericht, mit "gefälschten Beweisen" in einem "politischen Prozess" aus Opfern Täter zu machen.
Das Verfahren gegen Karadzic hatte bereits im vergangenen Oktober begonnen. Doch der Angeklagte hatte seinen Fortgang boykottiert. Das Gericht habe ihm nicht genügend Zeit gegeben, mehr als 300 000 Seiten Prozessdokumente für seine Verteidigung zu lesen. Doch für den Vorsitzenden Richter, den Südkoreaner Kwon O-gon, gibt es nur eine Priorität: Der Prozess soll nicht so enden wie jener gegen Jugoslawiens Ex-Präsidenten Slobodan Milosevic. Der hatte mit allen Tricks das Verfahren in die Länge gezogen - und starb am 11. März 2006 an einem Herzinfarkt. Das Uno-Tribunal hatte seinen wichtigsten Angeklagten nicht verurteilen können.
Anfang November hatte O-gon beschlossen, Karadzic einen Pflichtverteidiger zur Seite zu stellen. Nach wie vor kann sich der ehemalige Serbenführer, der im Juli 2008 nach elfjähriger Flucht gefasst wurde, selbst verteidigen. Boykottiert er das Gericht aber erneut, übernimmt der Brite Richard Harvey diese Aufgabe. Elf Anklagepunkte liegen gegen Radovan Karadzic vor. Zwei wegen Völkermords, fünf wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und vier wegen Kriegsverbrechen. Der Bosnienkrieg soll 200 000 Menschenleben gefordert haben.