Mit gestohlenen Panzerwagen drangen die Aufständischen in den Regierungsbezirk ein - eine Schlappe für Karsai.
Hamburg/Kabul. Masum Staneksai, der Sicherheitsberater von Präsident Hamid Karsai, hatte gerade begonnen, im Amtssitz des Vizepräsidenten den neuen Friedensplan für Afghanistan zu erläutern, als ihn eine gewaltige Detonation jäh unterbrach und das ganze Gebäude wackeln ließ. "Oh mein Gott", stöhnte Staneksai nach Angaben der Reuters-Korrespondentin Sue Pleming, "das ist wieder ein Selbstmordattentäter. So arbeitet man eben in einem Land, in dem Krieg herrscht."
Während die amerikanische Regierung mitten in einer Aufstockungsphase ihrer Truppen steckt, um die Lage am Hindukusch endlich zu stabilisieren, demonstrierten die Taliban gestern ihre ungebrochene Fähigkeit zu koordinierten Terrorangriffen mitten in der afghanischen Hauptstadt. Es war der schwerste Taliban-Angriff in Kabul seit fast einem Jahr. Zwölf Menschen, darunter sieben Aufständische, kamen nach letzten Meldungen dabei ums Leben, 71 weitere wurden verletzt.
An mehreren Stellen im Herzen Kabuls sprengten sich Selbstmordattentäter in die Luft. Ziele waren Ministerien, Einkaufszentren und Hotels. Zugleich versuchte eine starke Truppe schwer bewaffneter Taliban, den Präsidentenpalast und mehrere Ministerien zu erobern. Die Gefechte mit der afghanischen Armee und Spezialeinheiten der US-Streitkräfte zogen sich über fünf Stunden hin. Vorübergehend war auch ein Kino in der Hand der Aufständischen, ein Einkaufszentrum stand in Flammen. Nach Bericht des privaten afghanischen Senders Tolo sprengten sich zwei Selbstmordattentäter vor dem Präsidentenpalast in die Luft, zwei weitere wurden von Wachleuten erschossen. Ein anderer Selbstmordattentäter riss vor dem Außenministerium mehrere Menschen in den Tod. Eine Bombe ging auch im Garten des Hotels Serena hoch, des einzigen Fünf-Sterne-Hotels in ganz Afghanistan. Auch das Hotel Ariana wurde beschossen.
Der Angriff begann offenbar auf dem belebten Paschtunistan-Platz zur Hauptverkehrszeit. Ein Augenzeuge sagte aus, einer der Selbstmordattentäter habe einen Krankenwagen zur Tarnung für seinen Anschlag benutzt. Als es den Kämpfern nicht gelang, die Regierungsgebäude zu erobern, verschanzten sie sich in den gut besuchten Einkaufszentren Kari Sami und Gulbahar.
Die Taliban erklärten, sie hätten 20 Selbstmordattentäter nach Kabul geschickt. Der Angriff zielte offenbar darauf ab, das Regime der ohnehin geschwächten Regierung von Präsident Karsai weiter zu destabilisieren. Um in den gut gesicherten Regierungsbezirk zu gelangen, hatten die Taliban vorher Panzerwagen der Armee gestohlen. Karsai versuchte, die Bevölkerung zu beruhigen, erklärte bereits, die Lage sei unter Kontrolle, als noch gekämpft wurde. Künftig wolle er noch mehr Soldaten und Polizisten zur Sicherung abstellen, versprach er. Für Karsai ist der Angriff eine doppelte Schlappe: zum einen, weil die Taliban ungehindert in das Herz Kabuls vorstoßen konnten. Zum anderen, weil der Versöhnungsplan unter Einbeziehung gemäßigter Taliban, den Karsai Ende des Monats auf der Afghanistan-Konferenz in London vorstellen will, damit schwieriger umzusetzen ist.