Zwei Protokolle sehen eine Grenzöffnung und die Aufnahme diplomatischer Beziehungen der Erbfeinde vor.
Zürich. Zuletzt kam es beinahe noch zu einem Drama - wie so oft, wenn die Türkei sich anschickt, wichtige internationale Verträge zu unterzeichnen. US-Außenministerin Hillary Clinton war eigens nach Zürich gereist, um bei der feierlichen Unterzeichnung zweier Protokolle zur Aussöhnung der Erbfeinde Türkei und Armenien dabei zu sein. Sie war schon zum Ort des "historischen Ereignisses" gefahren, aber dann stieg sie gar nicht erst aus dem Auto, sondern fuhr zurück ins Hotel.
Beide Seiten hatten in letzter Minute ein faules Ei aus dem Hut gezaubert, beide wollten den Text der Protokolle durch eigene Erklärungen "interpretieren". Und beide fanden die Stellungnahme der Gegenseite inakzeptabel. So mussten der russische Außenminister Sergej Lawrow und der EU-Chefdiplomat Javier Solana, die ebenfalls angereist waren, noch drei Stunden warten, bis es Clinton in Telefongesprächen gelang, die Streithähne von einem Verzicht auf eigene Interpretationen zu überzeugen.
Die Armenier wollten nach türkischen Berichten in dem Protokoll auf den armenischen "Genozid" von 1915 hinweisen. Armenien und mehrere westliche Staaten sehen es als erwiesen an, dass bei den Massakern an Armeniern zwischen 1915 und 1917 bis zu 1,5 Millionen Menschen starben, und sprechen von Völkermord. Die Türkei weist das zurück - und lehnte den Passus ab.
Die Türken wiederum planten einen Hinweis auf "Stabilitätsprobleme" in der Region - und meinten damit den Konflikt um Berg-Karabach. Die armenisch bevölkerte Enklave, die zu Aserbaidschan gehört, aber seit einem Krieg 1993 militärisch von Armenien kontrolliert wird, ist der Grund, warum die türkisch-armenische Grenze geschlossen ist. Die Türkei fordert seit jeher einen Rückzug Armeniens aus der Enklave, bevor eine Normalisierung der Beziehungen infrage kommt.
Um diesen Konflikt zu lösen, laufen seit einiger Zeit parallel Verhandlungen zwischen Armenien und Aserbaidschan. Eigentlich hatte man sich aber geeinigt, die Frage der Grenzöffnung und die Verhandlungen um Berg-Karabach formal zu trennen. Die türkische Erklärung hätte durch die Hintertür doch noch eine Kopplung der Prozesse hergestellt.
Der Verzicht auf beide Erklärungen ändert freilich nichts an der Realität: Die beiden Verhandlungsstränge sind eng miteinander verbunden. Wie sehr, das wurde deutlich, als Aserbaidschan die Unterzeichnung der Protokolle umgehend verurteilte: Die Stabilität der Region sei in Gefahr, wenn die Türkei ihre Grenzen öffnet, bevor Armenien sich aus Berg-Karabach zurückzieht.
Im Kern geht es darum, dass das eingeschlossene Armenien diese Öffnung schon aus wirtschaftlichen Gründen mehr braucht als die Türkei. Ankara will dies nutzen, um zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. So soll das Versprechen einer Öffnung der Grenzen als Hebel genutzt werden, um den Konflikt um Berg-Karabach zum Vorteil Aserbaidschans zu lösen.
Vor zwei Jahren kontaktierten beide Seiten die Schweiz und baten um Vermittlung.
Die Protokolle, die nun in Zürich unterschrieben wurden, legen einen Fahrplan zur Grenzöffnung und zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen fest. Sie müssen noch von den Parlamenten ratifiziert werden. Die Europäische Union und die Bundesrepublik begrüßten die Einigung.
Die Ratifizierung allerdings bietet sich bereits als türkisches Druckmittel an. Ministerpräsident Erdogan hat bereits angedroht, es werde womöglich keine Ratifizierung und daher auch keine Öffnung der Grenze geben, bevor Armenien einwilligt, sich aus Berg-Karabach zurückzuziehen.
Am Ende könnte ein Teilrückzug oder die Öffnung eines entmilitarisierten Korridors stehen, um einen Landweg zwischen Aserbaidschan und der Türkei herzustellen. Die Verhandlungen zwischen Armenien und Aserbaidschan dauern an.
Eine Einigung wäre ein erster Erfolg der neuen türkischen Außenpolitik unter der islamisch geprägten AKP-Regierung, deren Motto "null Probleme mit den Nachbarn" lautet. Auch den Kurdenkonflikt will man lösen, dann den Zypernkonflikt und darüber hinaus im Nahen Osten vermitteln.
Auf diese Weise will Ankara die Freiräume für die innere Demokratisierung vergrößern, und wichtiger und annehmbarer für die EU werden. Kritiker vermuten dagegen dahinter eine an alter osmanischer Größe orientierte Außenpolitik.