In Kalifornien beginnt die Cannabis-Ernte - für “medizinische Zwecke“. Schon nächstes Jahr könnte der Anbau von Marihuana komplett legal sein.

Richard Nixon und Ronald Reagan hätten Eric Sligh gemeinsam mit Schwerverbrechern und Terroristen ins Gefängnis gesperrt - nur wegen seines Gartens. Denn hinter seinem Einfamilienhaus in Redwood Valley, einem Städtchen zwei Autostunden nördlich von San Francisco, pflegt der 30-Jährige elf Pflanzen mit wissenschaftlicher Sorgfalt. Er stutzt und schneidet, wässert und düngt. Aus den Setzlingen, die er im April unter künstlichem Licht in seinem Wohnzimmer großgezogen hat, sind riesige Büsche geworden, die nun zwei Meter hoch in den Himmel ragen. Jetzt erntet er ihre Blüten und Blätter. "Ich rechne mit einem Ertrag von fast 20 Kilogramm", sagt Sligh. Er baut keine Himbeeren an. Sondern Marihuana.

Nixon und Reagan wollten mit aller Macht gegen illegale Rauschmittel vorgehen. Der eine erklärte den "Krieg gegen Drogen", der andere führte ihn verbissen im In- und Ausland weiter. Sie bauten Gefängnisse, befahlen Großrazzien und ordneten Militärschläge an. Doch der "War on Drugs" scheint verloren zu sein. Und im liberalen Kalifornien löst sich der konservative Traum von einem drogenfreien Amerika in Rauch auf. Der bevölkerungsreichste Bundesstaat der USA, für sich genommen die neuntgrößte Wirtschaftsmacht der Welt, könnte schon im nächsten Jahr Marihuana legalisieren.



Das entscheidende Argument für diesen Schritt lieferte dabei weder die Heilkraft der Cannabis-Pflanze noch die Vielzahl wissenschaftlicher Gutachten, die Marihuana als weniger gefährlich einstufen als Alkohol und Tabak. Der Grund ist das Geld. Denn Kalifornien ist pleite - 26 Milliarden Dollar fehlten dieses Jahr im Haushalt, und die Parlamentarier mussten tiefe Einschnitte vornehmen, genau dort, wo es wehtut: in der Bildungs-, Gesundheits- und Kommunalpolitik. Bis zu 1,43 Milliarden Dollar, rechnen Experten vor, könnte Kalifornien mehr einnehmen, wenn Marihuana an Erwachsene verkauft und ähnlich besteuert würde wie Schnaps, Alkohol und Zigaretten. Schon heute ist der Gebrauch der Pflanze in Kalifornien, ebenso wie in 13 weiteren Bundesstaaten, zu medizinischen Zwecken erlaubt. Eine Politik, die unter Präsident Barack Obama geduldet wird.


Der republikanische Gouverneur Arnold Schwarzenegger fordert daher, das Thema öffentlich zu diskutieren. Demokratische Politiker bereiten einen Gesetzentwurf vor, der in der Landeshauptstadt Sacramento debattiert werden soll. Aktivisten wollen bis Jahresende genügend Unterschriften sammeln, um 2010 die Legalisierung im Rahmen einer Volksabstimmung zu erzwingen - nur für den Fall, dass sich die Abgeordneten nicht einigen können. Ihre Chancen stehen gut. Nach Umfragen unterstützen 56 Prozent der Kalifornier die Legalisierung.


Marihuana ist längst eine feste Größe in der kalifornischen Wirtschaft. Das weiß auch Cannabis-Gärtner Eric Sligh, der in Mendocino County aufgewachsen ist - der Südspitze des "Grünen Dreiecks" in Nordkalifornien, zu dem auch Humboldt County und Trinity County gehören. Die Landkreise sind seit den 60er-Jahren für ihre Cannabis-Kultur bekannt. "Die Hippies haben angefangen, in Mendocino Marihuana anzubauen", sagt Sligh. "Heute dreht sich hier fast alles um Gras."


Bis zu zwei Drittel der Wirtschaftsleistung in der Region hängen von Marihuana ab. Cannabis-Gärtner produzieren in Mendocino jährlich legale und illegale Blüten im Wert von einer Milliarde Dollar. In ganz Kalifornien sollen es sogar 14 Milliarden sein. Damit ist Marihuana das lukrativste landwirtschaftliche Produkt in dem Bundesstaat, der etwa 20 Prozent aller US-Agrarprodukte produziert. Die Umsatzzahlen sind doppelt so hoch wie die des offiziellen Spitzenreiters: Milch.


In Slighs Garten wachsen derzeit elf Pflanzen heran. Nach lokaler Rechtsprechung in Mendocino dürften es sogar 25 sein, denn sein Arzt hat Sligh Marihuana als Arzneimittel verschrieben. "Gegen meine Schlafstörungen", sagt er und grinst. Das Attest berechtigt Sligh zum Kauf von getrockneten Cannabis-Blüten in staatlich lizenzierten Abgabestellen und zum persönlichen Anbau für den Eigenbedarf. 20 Kilo Marihuana gegen Schlafstörungen? "Ja", antwortet er knapp - und lächelt erneut. Der Wert seiner Ernte ist Sligh bekannt: "Je nach Angebot und Nachfrage könnte eine solche Menge knapp 50 000 Dollar einbringen."


Offiziell verdient Sligh seinen Lebensunterhalt als Publizist der Zeitschrift "Grow". Derzeit liefert das "Nachrichtenmagazin der lokalen Cannabis-Kultur" zweimal pro Jahr auf mehr als 80 Seiten Einblicke in die Drogenwirtschaft Nordkaliforniens. Hochglanzfotos zeigen Cannabis-Pflanzen in voller Blüte, Autoren schreiben über Razzien der Polizei auf illegalen Plantagen und geben Anbautipps für Hobbygärtner. Anzeigen locken Erstkunden mit Gratisangeboten und bieten Lieferungen für schwer kranke Patienten frei Haus. Kritiker nennen seine Zeitschrift "Cannabis-Pornografie", sagt Sligh, doch das sei ihm egal: "Wir wollen schon bald jeden Monat ein neues Heft veröffentlichen. Der Markt wächst."


Die kalifornische Cannabis-Industrie ist salonfähig geworden. Im Herzen von Oakland, der Nachbarstadt von San Francisco, werden an der "Oaksterdam University" (ein Wortspiel aus Oakland und Amsterdam), Ecke Broadway und 19. Straße, jeden Monat 250 Personen ausgebildet. Die "Schüler" belegen Wochenendkurse und 13-wöchige Abendseminare und hören Vorlesungen zu Themen wie Drogenpolitik, lokale und nationale Gesetzgebung und Gartenbau. "Jeder Absolvent erhält ein Diplom, das einen erfolgreichen Einstieg in das Cannabis-Geschäft sichert", sagt Schulleiter Richard Lee.


Die Nachfrage ist groß. Seit Lee 2007 in einem winzigen Seminarraum die ersten 50 Schüler unterrichtet hat, expandiert Oaksterdam ständig. Mittlerweile gibt es einen Campus in Los Angeles und einen zweiten etwa eineinhalb Stunden nördlich von San Francisco. Auch in Michigan, wo Marihuana ebenfalls für medizinische Zwecke genutzt werden darf, bieten Oaksterdam-Experten Seminare an. Und im Herbst zieht der Campus in Oakland in ein Gebäude, das mit knapp 3000 Quadratmetern auf drei Etagen fast sechsmal so viel Platz bietet wie die jetzigen Räume.


Die Schüler, die in der Cannabis-Uni die Schulbank drücken, sind dabei alles andere als jugendliche Kiffer. Die meisten stehen mitten im Leben, und viele sind auf der Suche nach einem zweiten beruflichen Standbein. Wie Teri Subido. Die 45-Jährige aus San José besucht die Oaksterdam-Universität dreimal pro Woche gemeinsam mit ihrem Mann, einem Ingenieur. "Wir überlegen, eine Abgabestelle für medizinisches Marihuana aufzubauen", sagt Subido, die früher als Reisekauffrau gearbeitet hat und seit Jahren an rheumatoider Arthritis leidet.


Als die chronischen Schmerzen zu groß wurden, musste Subido ihren Job aufgeben. Irgendwann hat sie sich dann vom Arzt Cannabis verschreiben lassen. Es war ein Akt der Verzweiflung, sagt Subido, denn sie hatte große Vorbehalte: "Da mein Ex-Mann sich regelmäßig mit Gras zugedröhnt hat, ist meine erste Ehe kaputtgegangen. Und ich habe lange versucht, meinem Sohn das Kiffen zu verbieten." Aber heute ist sie von ihrer Medizin überzeugt - "Nichts hilft besser gegen meine chronischen Schmerzen" - und hofft, schon bald einige ihrer 13 herkömmlichen Medikamente absetzen zu können.


Die strenge Drogenpolitik findet in den USA immer mehr Kritiker. Der "War on Drugs" hat wesentlich dazu beigetragen, dass heute in den Vereinigten Staaten 25 Prozent der weltweiten Gefängnisbevölkerung hinter Gittern sitzen. Etwa 500 000 Amerikaner verbüßen Haftstrafen aufgrund von Verstößen gegen geltende Drogengesetze - zwölfmal so viele wie 1980. Harvard-Ökonom Jeffrey Miron hat errechnet, dass US-Behörden mehr als 44 Milliarden Dollar im Jahr ausgeben, um Verbote illegaler Rauschmittel durchzusetzen. Allein 7,7 Milliarden Dollar entfallen auf Cannabis-Straftaten.


Doch der Anteil der amerikanischen Bevölkerung, der Cannabis konsumiert, liegt seit Jahren über zehn Prozent. Dabei sind die Zahlen in den Bundesstaaten mit liberalen Gesetzen nicht wesentlich höher als in den strikteren Staaten. "Wir haben Milliarden in den Krieg gegen die Drogen investiert. Aber was haben wir erreicht?", fragt Norm Stamper. Der ehemalige Polizeipräsident von Seattle ist Sprecher der Organisation LEAP (Law Enforcement Against Prohibition), einem Zusammenschluss von Polizisten, Richtern und Staatsanwälten, die sich in Washington für eine drastische Liberalisierung der nationalen Drogengesetze engagieren. "Drogen sind heute leichter verfügbar, sie sind günstiger und stärker als früher", sagt er. "Der ,War on Drugs' ist gescheitert."


Das scheint auch die neue Regierung so zu sehen. Der Terminus "War on Drugs" soll nicht mehr verwendet werden, verstärkt wird für Therapieprogramme geworben. Justizminister Eric Holder unterstrich im Frühjahr, dass die neue Regierung nicht gegen Privatpersonen und Marihuana-Abgabestellen vorgehen will, sofern sie sich an geltendes Recht der Bundesstaaten halten. Von einer Legalisierung auf nationaler Ebene ist Amerika noch weit entfernt.


Ganz anders sieht es in Kalifornien aus, dem Bundesstaat mit den tolerantesten Gesetzen. Hier scheint jeder, der 150 Dollar für eine medizinische Untersuchung zahlen kann, ein ärztliches Attest für den Cannabis-Konsum zu erhalten. Wähler in Oakland haben entschieden, dass ihre Polizei Marihuana-Delikte als letzte Priorität betrachten soll. Damit ist der Umgang mit der Droge praktisch entkriminalisiert worden.


Weil die Verkaufssteuern für medizinisches Marihuana auf 1,8 Prozent angehoben wurden, muss Richard Lee 50 000 Dollar zusätzlich an Steuern zahlen. Sein "Blue Sky Cafe", eine Abgabestelle, die er neben seiner Tätigkeit als Oaksterdam-Schulleiter betreibt, setzt jährlich drei Millionen Dollar um. Trotzdem begrüßt er die Steuererhöhung. "Die Stadt braucht das Geld, und der Entschluss ist ein weiterer Schritt in der Legitimation der Cannabis-Industrie."


Einer der Hunderten von Kunden im "Cafe" ist Jose Correa. Der 60-Jährige leidet an Hepatitis C. Die Droge, die er am liebsten als Gebäck einnimmt, lindere seine Schmerzen, helfe ihm beim Einschlafen und rege seinen Appetit an. Er sagt: "Die Leute rauchen doch auch, wenn sie nicht krank sind, ob verboten oder nicht. So wie unser Gouverneur."


Tatsächlich hat Schwarzenegger zugegeben, am Ende seines Films "Pumping Iron" von 1977 einen Joint geraucht zu haben. Auch Bill Clinton, George W. Bush und Barack Obama haben mit Cannabis experimentiert. Was Nixon und Reagan wohl dazu gesagt hätten?