Frank Beha war als Bundeswehrsoldat in Kundus. Dann tauschte er das Gewehr gegen die Bibel. Jan Haarmeyer traf ihn in seinem Gotteshaus.
Notfalls hätte er töten müssen. Hätte auf diesen "fanatisch wirkenden" Menschen schießen müssen, der plötzlich aus einer Seitenstraße in Kundus mit einer Waffe in der Hand auf ihn und seine Bundeswehrkameraden zulief. Sie waren zu fünft auf Patrouillengang, und der "emotional sehr aufgeheizte Mensch" weigerte sich, das Gewehr aus der Hand zu legen. "Bei uns schrillten alle Alarmglocken", sagt Frank Beha. Dann griffen die Automatismen, wie er sie tausendmal vorher eingeübt hatte: Der Griff zur Waffe wird fester, der Blutdruck steigt. Waffe entsichern, Alarmstufe Rot. "Wir hatten ihn im Laservisier." Aber bevor die Situation eskalierte, wurde der Afghane von der örtlichen Polizei festgenommen.
Das war der einzige wirklich kritische Vorfall während des Auslandsaufenthalts von Frank Beha. Als der 24-jährige Zeitsoldat der zweiten Kompanie des Jägerbataillons 292 erfuhr, dass sein nächster Einsatzort Afghanistan sein werde, hatte er durchaus "die Möglichkeit im Kopf, nicht mehr lebendig heimzukommen". Aber dann ließ er "alles auf sich zukommen" und dachte nicht mehr großartig darüber nach.
Vier Jahre später ist aus Frank Beha Bruder Longinus geworden. Aus der Kaserne wurde das Kloster, statt Tarnanzug trägt er jetzt eine Kutte. "Meine Knarre ist das Gebetbuch und der Truppenübungsplatz das Gotteshaus", sagt er bildhaft, wenn er verblüffte Soldaten durch das Haus und die angrenzende barocke Kloster- und Wallfahrtskirche mit ihren wertvollen Deckengemälden führt.
Wir sitzen in einer kleinen Kammer des beeindruckenden Benediktinerklosters in Beuron, postkarten-idyllisch gelegen in der Schwäbischen Alb. Hoch oben im siebten Stock hat der Mönch von seiner vier mal sechs Meter großen Zelle, bestückt mit Bett, Kleiderschrank, Schreibtisch, Bücherregal und einer Waschgelegenheit "für die Katzenwäsche", einen wunderschönen Ausblick auf das Donautal.
Es ist schwer vorstellbar, dass dieser 28 Jahre alte, eher schüchterne Klosterbruder auch nur im Entferntesten etwas mit jenem Mann zu tun haben soll, der im Frühjahr 2005 sechs Monate lang mit Sturmgewehr (G 36) und Nachtsichtgerät, schusssicherer Weste und als Fahrer in einem "Mungo" in dem kargen Land im Hindukusch im Einsatz war. Bruder Longinus wirkt fast zerbrechlich, wählt seine Worte mit Bedacht und erzählt, dass Bekannte finden, er hätte jetzt einen ganz anderen Gesichtsausdruck als auf den Fotos aus Afghanistan.
Er ist noch immer gut informiert über das so arg strapazierte Land, das nie zur Ruhe kommt und die Welt seit Jahrzehnten in Atem hält, jetzt wieder bei den Wahlen. Bis zu 40 Grad Hitze hat Frank Beha dort erlebt, am schlimmsten aber waren "die Temperaturunterschiede von mehr als 30 Grad" - 16 Grad am Tag, minus 16 Grad in der Nacht. Nicht einmal in der Drei-Millionen-Stadt Kabul gibt es eine Kanalisation, kein Reisender hat eine Chance, ansteckenden Krankheiten zu entkommen.
Er sagt, dass es für die Kameraden dort "jetzt viel gefährlicher geworden ist". Weil sich das Verhältnis der Zivilbevölkerung zu den Bundeswehrsoldaten verschlechtert habe. Weil es gezielt Anschläge auf deutsche Einrichtungen gebe. Und weil die Taliban sehr genau wissen, dass mit einer zunehmenden Zahl der Anschläge der Rückhalt der deutschen Bevölkerung gegenüber dem Bundeswehreinsatz rapide abnimmt.
Bruder Longinus erzählt, dass er die Kameraden jetzt im Gebet unterstützt. Er steht jeden Morgen um 4.30 Uhr auf. Die erste Gebetszeit, die einstündige Morgenhore, beginnt um fünf. Nach dem Frühstück hat er noch Zeit für ein persönliches Gebet, bevor um 7.30 Uhr die Terz, das zweite gemeinsame Gebet, ansteht. Um 11.15 Uhr fängt das Hochamt an, die tägliche Messe, der Mittelpunkt des Tages. Eine Stunde später beginnt die Mittagshore. Um 18 Uhr werden in der halbstündigen Vesper die Psalmen in Latein gesungen. Nach dem Abendessen um 18.45 Uhr, das genau wie das Mittagessen stillschweigend eingenommen wird, während ein Bruder von einer Empore aus einen Text vorliest, steht um Viertel vor acht die Komplet, das Nachtgebet, an. Ab 20 Uhr ist Nachtruhe.
Es ist einiges zusammengekommen im Leben des Frank Beha, dass er es jetzt so ausschließlich in Gottes Hand gelegt hat. Und die Zeit in Afghanistan hat ihm "geholfen, diese Entscheidung zu treffen". Wie die Menschen dort ihren Glauben leben, die Religion in ihr Leben integrieren, das sei seine wichtigste Erfahrung gewesen. "Das hat mir persönlich sehr viel gebracht." Das fand er sogar "vorbildlich". Wie der Glauben den Alltag durchdringt, wie alles, das Essen, das Stühlerücken oder das Glühbirnewechseln, zur Verherrlichung Gottes geschehe. In Afghanistan würde niemand verstehen, wenn einer überhaupt nicht glaubt. Wenn ein Muslim das Gefühl habe, sein Gesprächspartner sei ungläubig, habe er absolut keine Achtung mehr vor ihm. Akzeptiert werde aber, wer sich als Christ zu erkennen gebe. Das sei zwar nicht rechtgläubig, aber immerhin auch nicht ungläubig. Ob sein Gott derselbe Gott ist, den die afghanischen Muslime anbeten? "Ich glaube schon", sagt Bruder Longinus und lächelt freundlich. Auch im Islam käme Jesus schließlich vor, wenn auch nicht "als Erlöser, sondern nur als Prophet".
Die Zeit in Kundus war für den Jungen aus dem Schwarzwald, der auf einem Hof in der Nähe von Villingen aufgewachsen ist, die letzte Etappe auf dem Weg ins Kloster. Weitere Zwischenschritte waren Soldatenexerzitien, der persönliche Kontakt zum Militärpfarrer und eine Wallfahrt nach Lourdes. "Wenn dort 20 000 Menschen aus aller Welt auf engstem Raum friedlich miteinander auf Glaubenssuche sind, ist das eine unglaublich bewegende Erfahrung."
Aber eigentlich hatte sich sein Entschluss, Mönch zu werden, schon vor dem Afghanistan-Einsatz angebahnt. Frank Beha, damals 24 Jahre alter Zeitsoldat, erzählt von einem Gewaltmarsch im Hochsommer, 30 Kilometer im Kampfanzug bei drückender Hitze. Als ihm die Kraft ausging, schoss ihm auf halber Strecke ein Gedanke durch den Kopf: "Wenn ich den Marsch unter drei Stunden schaffe, gehe ich ins Kloster." Er lief los, "wie von einem anderen Wunsch beseelt", hatte keinen Durst mehr, blieb innerhalb der angestrebten Zeit: "Blitzartig herrschte in mir große Klarheit."
Heute sagt er, dass er in diesem Moment "die Kraft gespürt hat, die man aus einem Gebet schöpfen kann". Wenn man tue, was einem möglich ist, meint er weiter, "gibt Gott den Rest dazu". Er weiß aber auch: "Natürlich ist so ein Erlebnis für Außenstehende logisch nicht greifbar. Man hat etwas erlebt, und weiß nicht warum. Man spürt etwas nur mit dem Herzen." Vergleichbar sei das ganze mit der Liebe auf den ersten Blick.
Und vielleicht muss man noch einen Schritt zurückgehen, um den eigenwilligen Weg des Bruders Longinus zu verstehen. Der kleine Frank war acht Jahre alt, als die Mutter die Familie verließ. Ein Trauma, das er in seinem Buch ("Ab morgen Mönch", Pattloch-Verlag, 288 Seiten, 16,95 Euro) ausführlich beschreibt, "weil es zu meinem Leben gehört und weil man sonst meinen Weg vielleicht nicht nachvollziehen kann". Er hat sich nach der Trennung seiner Eltern abgekapselt und die Menschen auf Distanz gehalten, vielleicht auch unbewusst. Er erlitt bis zu seinem 14. Lebensjahr einen seelischen Zusammenbruch und einen totalen Blackout. "Es ist ein Irrtum zu glauben, Kinder hätten keine Probleme, wenn sich ihre Eltern trennen." Bei ihm hatte es zur Folge, dass er sich vor Beziehungen drückte und von da an bloß nicht mehr anecken wollte. Die Angst, etwas falsch zu machen, habe sich "leider durch mein ganzes Leben gezogen". Erst bei der Bundeswehr fand er wieder Freunde. Und er war dankbar für klare Ansagen. "Nicht zuletzt durch die Trennung der Eltern benötige ich nun einmal sichere Strukturen", sagt er.
Und so ist der Schritt vom Hindukusch in die Schwäbische Alb, von Kundus nach Beuron nur vordergründig der Wechsel von einem Extrem ins andere. Frank Beha tauschte eine überaus hierarchische Männergesellschaft, in der der Alltag ohne Befehl und Gehorsam nicht funktioniert, in eine andere mit ähnlichen Regeln. Für ihn war das nur folgerichtig. Ein Leben nach Stundenplan und mit festem Rahmen. Ein Dasein mit detaillierter Angabe der zu verrichtenden Tätigkeiten samt festgelegter Freizeiten für eigene Gedanken. Ein Auftreten in Uniform und in Reih und Glied. Ein entschiedenes Leben, aber auch jenseits aller Beliebigkeit.
Bei allen Parallelen aber bleibt die Frage nach dem fünften Gebot: Du sollst nicht töten! Einer wie er müsste sich doch vehement für Kriegsdienstverweigerer einsetzen. Ja, sagt Bruder Longinus, das sei wirklich nur schwer miteinander vereinbar. Der Mönch spricht dann aber auch vom Gehorsam gegenüber dem demokratischen Staat und der Pflicht, sich einzumischen, um noch größeres Leid zu verhindern.
Er ist damals nach Afghanistan gegangen, um den Frieden zu sichern. Jetzt sucht er seinen eigenen Frieden. Weil er irgendwo auf seinem Weg über die Sinnfrage gestolpert ist. Wie so viele ist er auf der Suche nach den richtigen Antworten auf die wirklich großen Fragen: Was fange ich mit meinem Leben an? Gibt es einen Gott, der alles lenkt? Und wessen Wille geschehe?
Gott hat er noch nicht gefunden, sagt er. "Das wird auch noch sehr lange dauern. Wenn man von sich selber sagt, man hat Gott gefunden, ist man einen Schritt zu weit. Aber es gibt Zeiten, da weiß ich, dass er da ist. Und welche, in denen ich ihn nicht spüre. Da muss man darauf vertrauen, dass er da ist."
Es gebe auch Zeiten im Kloster, in denen ihm alles zu viel wird. Mit zweien der drei Benediktiner-Gelübde, Gehorsam und klösterlichem Lebenswandel, also Enthaltsamkeit, Armut und Schweigsamkeit, hat er keine Probleme. Schwerer fällt ihm die geforderte Beständigkeit. Lebenslang in Beuron?
Im nächsten Jahr will er die ewigen Gelübde ablegen. Das ist etwas Endgültiges, "vergleichbar mit einer Heirat". Natürlich könne ihm plötzlich doch noch die Frau seines Lebens über den Weg laufen. Aber er rechnet nicht wirklich damit. Der gelernte Elektroinstallateur kann sich eher vorstellen, noch einmal zu studieren und dann vielleicht als Militärpfarrer zu arbeiten. Vielleicht in Afghanistan?
Wo sieht sich Bruder Longinus in zehn Jahren? "Wenn es nach mir geht, immer noch in Beuron", sagt er.
Und er ahnt wohl, dass es in seinem Leben schon länger nicht mehr darum geht, was er will.