Der Dalai Lama befindet sich in einer tragischen Situation. Sein Verhandlungswunsch wird von Peking zurückgewiesen und von den eigenen, vor allem den jüngeren Anhängern missachtet. Die Chinesen fürchten, das leiseste Zeichen des Einlenkens auf den Pfad der Politik würde dem Aufruhr neue Nahrung geben, während viele der Unterdrückung müde Tibeter glauben, die Zeit des friedfertigen Abwartens und der Leidensgeduld sei abgelaufen.

Dieser Widerspruch gibt dem Nationalitätenkonflikt eine unselige Gewalt-Dynamik. Die Chinesen wissen, dass ihre Herrschaft nicht auf Stein gebaut ist, wie die imposante Klosterfestung von Potala, der Palast alt-mönchischer Feudalherrschaft, sondern auf rieselndem Sand: Gefährlicher als der Aufruhr auf dem Dach der Welt, über den wir im Grunde wenig wissen, ist die historisch zu nennende Unbeugsamkeit der kleinen tibetischen und großen turkmenischen Völkerschaften in den Tal-Provinzen von Sichuan und Gansu. In Tibet kann eine Stichflamme entstehen, in den ausgedehnten westchinesischen Gebieten ein Flächenbrand.

Mit Gewehrläufen, Panzerkolonnen, Razzien und Absperrungen wehrt die chinesische Autorität den Anfängen, weil nach ihrer Meinung das Ende nicht absehbar ist. Die Furcht der Führung in der 4. Generation nach Mao ist nicht gespielt. In den unendlichen Weiten des vorwiegend ländlichen Westchinas fließen zwei wilde Ströme ineinander: der Kulturkampf zwischen Nationalitäten mit ungebrochenem Stolz und ein Sozialkonflikt, der aus dem Wohlstandsgefälle gegenüber den wohlhabenderen Küstenregionen herrührt. Sie manifestieren sich seit Langem in täglicher Gewalt, über die nur bruchstückhaft berichtet wird.

Die Parteiregierung sucht den Geist der Völker, ihre Traditionen und ihren Eigenwillen durch Indoktrination, Überwanderung aus den Zentralprovinzen und "Modernisierungen" zu erdrücken. Die Sozialpolitik in der Form ausgleichender Lebenssicherung liegt unter den Rädern des industriellen Wachstums und der Bauwut, denen die ehrgeizige Führung den Primat beimisst. Es gibt Elemente der Basis-Demokratie - mehr Kandidaten als Positionen bei Wahlen -, aber sie hebt die Bitternis regionaler Armut und das hässliche Gegenbild der grassierenden Korruption, die Umweltverwüstung und die Gängelung der Geburtenkontrolle nicht auf.

In China herrscht viel Unzufriedenheit und mehr Ungleichheit, als ein im Aufbruch befindlicher Gesellschaftskörper verträgt. Den Parteiherrschern stehen die Schreckbilder revolutionärer Massen aus der Zeit der Kulturrevolution (1966-1976) und der Tienanmen-Unruhen (1989) vor Augen. Politische Lösungen, gar Kompromisse gehören nicht zum Kern der Mao- und Deng-Gedanken, denen die Führung noch folgt, der die Untertanen immer mehr entgleiten. Peking benötigt die hochpolierte Glanzfassade der Olympischen Spiele und ein ungetrübtes Wirtschaftswachstum mit geringer Inflation und ergiebigen Absatzmärkten. Über beiden liegt jetzt der Schatten der Krise.