Berlin. Hamburger Abendblatt:
Vor dem Londoner G20-Gipfel schwellen die Proteste in ganz Europa an. Gehen Sie auch auf Demonstrationen?
Heiner Geißler:
Nein. Aber ich finde es völlig in Ordnung, wenn Leute dagegen protestieren, dass sie mit Steuermitteln das reparieren müssen, was 50 000 Banker, Broker und Rating-Agenten verzockt haben.
Abendblatt:
Persönlichkeiten wie Luxemburgs Premier Jean-Claude Juncker haben vor sozialen Unruhen in Europa gewarnt - eine realistische Gefahr?
Geißler:
Eine realistische Warnung. Es gibt ja bereits eine erhebliche Unruhe in Frankreich. In Spanien auch. Wir haben keine Zeit mehr zu verlieren. Das heißt, beim G20-Gipfel müssen Beschlüsse gefasst werden. London ist der Lackmustest.
Abendblatt:
Was muss beim G20-Gipfel herauskommen?
Geißler:
Zu allererst braucht das globale Finanz- und Wirtschaftssystem wieder ein ethisches Fundament. Das Kapital kann man nicht abschaffen, aber wir müssen uns daran erinnern, dass das Kapital dazu da ist, den Menschen zu dienen, und nicht dazu, sie zu beherrschen. Die totale Ökonomisierung der Gesellschaft bis in das Bildungs- und Gesundheitswesen hinein und die Degradierung des Menschen zum Kostenfaktor waren die Todsünden des Kapitalismus.
Abendblatt:
Und zweitens?
Geißler:
... muss das Konzept einer internationalen und ökosozialen Marktwirtschaft mit einem globalen Marshallplan verbunden werden. Die Industrieländer müssen Regeln für den Geld- und Wertpapierverkehr beschließen, die Kontrolle der Finanzmärkte und ihrer Akteure durchsetzen und für staatliche Aufsicht über alle Teile des Finanzsystems garantieren - auch über die Hedgefonds, Rating-Agenturen und den Handel mit komplizierten Finanzprodukten. Drittens brauchen wir eine international vereinbarte Standardisierung der Finanzprodukte.
Abendblatt:
Was bedeutet das?
Geissler:
Dazu gehört auch eine Ordnung der Managergehälter. Managergehälter, und das hat nichts mit einer Neiddiskussion zu tun, müssen sich wieder an der langfristigen Entwicklung der Unternehmen orientieren und nicht daran, wie sich quartalsmäßig eine möglichst hohe Rendite erzielen lässt. International wäre es wichtig, die steuerfreien Geld- und Warengeschäfte von und mit den Offshorecenters zu verbieten. Noch besser wäre es, alle Steueroasen zu schließen. Und schließlich gehört dazu eine Reform der Weltbank, des internationalen Währungsfonds und der WTO.
Abendblatt:
Woher soll das Geld für einen globalen Marshallplan kommen?
Geißler:
Er ließe sich durch die Einführung einer internationalen Finanztransaktionssteuer finanzieren. Nähme man 0,1 Prozent des täglichen Börsenumsatzes, der bei zwei Billionen Dollar liegt, so wären das 300 Milliarden Dollar.
Abendblatt:
Welche Hoffnungen knüpfen Sie an US-Präsident Barack Obama?
Geißler:
Bisher ist die Reform des Finanzsystems ja bereits in den geringsten Ansätzen am Widerstand der US-Administration gescheitert. Angela Merkel hat in Heiligendamm vergeblich Vorschläge zur Kontrolle der Hedgefonds gemacht und ist am Widerstand von George W. Bush - und Tony Blair - gescheitert. Barack Obama hat einen Teil der Punkte, die ich eben genannt habe, inzwischen vorgeschlagen.
Abendblatt:
Wie bewerten Sie das Krisenmanagement der Bundesregierung?
Geißler:
Das ist sehr gut. Und es ist wirklich eine aberwitzige Dummheit, wenn Teile des Wirtschaftsrats der CDU das, was die Bundesregierung macht, als "Sozialismus" bezeichnen.