Trotz Einschüchterung sammelten sich in Moskau Zehntausende Menschen zum Marsch der Millionen. Demonstranten rufen “Russland wird frei sein“. Auch Angehörige der Mittelschicht gehen auf die Straße.
Moskau. Mit dem Ruf „Russland wird frei sein“ haben Zehntausende Menschen Präsident Wladimir Putin die Stirn geboten. Die Demonstranten strömten am Dienstag in Scharen in die Moskauer Innenstadt zur ersten großen Protestkundgebung seit Putins Rückkehr in den Kreml Anfang Mai. Sie trotzten damit einer Verschärfung des Versammlungsrecht und dem als Einschüchterungsversuch gewerteten Vorgehen der Polizei gegen führende Vertreter der Opposition. Prominente Putin-Gegner waren zeitgleich zur Polizei vorgeladen worden, offenbar um sie an der Teilnahme zu hindern. Die Polizei, die an Teilen der Demonstrationsstrecke Sperrgitter aufgestellt hatte, zeigte massive Präsenz, wenn auch nicht in dem Ausmaß wie bei früheren Anti-Putin-Aktionen war.
„Wer kämpft, lässt sich nicht einschüchtern“, sagte ein Demonstrant, der sich durch angelegte Orden als Veteran des sowjetischen Afghanistan-Kriegs der 1980er Jahre zu erkennen gab. Stattdessen sollten sich Putin und seine Gefolgsleute fürchten. Die Teilnehmer des Protests unter dem Motto „Marsch der Millionen“ schwenkten Fahnen und forderten ein „Russland ohne Putin“.
Am Ausgang aus der Moskauer U-Bahn wurden patriotische Lieder gespielt: "Ich bleibe mit dir, mein Heimatland für immer." Es ist ein Feiertag, der "Tag Russlands". Die Menschen auf den Rolltreppen tragen jedoch keine Fahnen oder andere Symbole des Staates, sondern weiße Bänder, Symbol der Proteste der letzten Monate. So verstehen sie Patriotismus: für das Land zu kämpfen, damit es so wird, wie sie es sich vorstellen - ein demokratischer Rechtsstaat. Oben am Strastnoj-Boulevard sammeln sich Zehntausende. Trotz Druck und Einschüchterungen sind sie gekommen, um gegen Kremlchef Wladimir Putin und seine Politik zu protestieren. "Tag Russlands. Ohne Putin", lautet ihr Motto heute.
Links vom Boulevard wehen die roten Fahnen der Kommunisten und der Linken Front. Vorne steht Sergej Udaltsow. Er hätte heute zu einer Vernehmung erscheinen sollen, doch er ging nicht dahin. "Ich habe beschlossen, heute mit dem Volk zu sein. Die Ermittler sollten warten", sagt er. Am Tag davor wurden seine Wohnung sowie die Wohnungen anderer Oppositionsführer durchsucht. Bei Udaltsow wurden Dokumente, Rechner und Datenspeicher beschlagnahmt. Er und die anderen Regierungskritiker - der Blogger Alexej Nawalny, Ilja Jaschin von der Bewegung Solidarnost und die Fernsehmoderatorin Xenia Sobtschak - sollen zu Massenunruhen angestiftet haben. Allen vier wurden am Montag Vorladungen überreicht. Auf diese Weise versuchten die Behörden, die Köpfe der Proteste loszuwerden und die Menschen von der Großdemonstration abzuschrecken. Dem gleichen Ziel diente auch die Verschärfung des Versammlungsrechtes. Das neue Gesetz, das die Strafen für nicht genehmigte Aktionen auf das 150-Fache erhöht, wurde in einer beispiellosen Eile vom Parlament vergangene Woche verabschiedet. 12 000 Polizisten sorgten für die Sicherheit während der Demonstration. "Die Macht versucht uns einzuschüchtern, doch das wird in Moskau nie funktionieren", sagt Ewgenij, ein Manager bei einem Bauunternehmen. "Wir werden weiter zu Protesten kommen, denn wir brauchen Freiheit."
Der Protestmarsch füllt mehrere Boulevards im Zentrum Moskaus. "Putin ist ein Dieb", "Putin, hau ab!", rufen die Demonstranten. Nach Angaben von einem der Organisatoren, Sergej Davidis, nahmen mindestens 50 000 Menschen am Marsch der Millionen teil, die Polizei sprach von lediglich 18 000 Teilnehmern, Udaltsow von 100 000. Zur anschließenden Kundgebung kommt die Menschenmenge zum Sacharow-Prospekt, wo am 24. Dezember eine der ersten Protestaktionen stattfand. Gestern ist der Prospekt wieder voll - die Unzufriedenheit legte sich nach den Präsidentenwahlen nicht. "Das funktioniert wie bei einer Sprungfeder", sagt der Abgeordnete der Partei Gerechtes Russland, Dmitri Gudkow. "Man kann daraufdrücken, aber nur bis einer gewissen Grenze, dann schlägt sie noch stärker zurück. Die Macht prüft, ob man die Menschen mit Festnahmen, Durchsuchungen und hohen Strafen einschüchtern kann. Doch das führt zu einem Gegeneffekt."
+++ Putin fehlt Vision für Russland +++
Gudkow soll heute auf der Bühne den Moderator Ilja Jaschin ersetzen, der lange bei einer Anhörung war. Erst um 17 Uhr konnte der zum Sacharow-Prospekt kommen. "Sie werden uns nicht einschüchtern", rief er. Auch der Blogger Alexej Nawalny war gestern nicht dabei. "Es ist schrecklich, hier zu sitzen, wenn die Stimmung am Sacharow-Prospekt so cool ist", twitterte er aus dem Zimmer der Ermittler. Er werde über die Arbeit seiner Stiftung zur Bekämpfung der Korruption gefragt. Gegen Udaltsow läuft ein Strafverfahren in der Stadt Uljaniwsk, weil er dort angeblich eine Journalistin geschlagen haben soll. Seine Anhänger befürchten, dass er zu einer längeren Haftstrafe verurteilt wird. Der russischen Opposition wird von den regierungstreuen Medien immer wieder vorgeworfen, aus dem Ausland finanziert zu werden. "Wenn die Macht keinen Dialog mit uns führt und nur die Sprache von Gummiknüppeln mit uns spricht, wird der Protest früher oder später sehr radikal, und niemand wird ihn stoppen können", sagt der Abgeordnete Dmitri Gudkow.
Wladimir Putin zeigte sich vom Widerstand gegen ihn unbeeindruckt. "Solche hitzigen Diskussionen sind die Norm für ein freies demokratisches Land, und das ist der Weg, den unser Volk gewählt hat", sagte er in einer Rede zum Unabhängigkeitstag im Staatsfernsehen. Der Präsident rief zu Dialog und Kompromissen auf. Zugleich warnte er aber auch seine Gegner indirekt vor einer schärferen Gangart: "Für uns ist alles inakzeptabel, was dem Land schadet und die Gesellschaft spaltet."
Mit Material von rtr