In Großbritannien könnten nach der heutigen Wahl die alten Machtstrukturen zerbrechen. Im Fokus steht dabei vor allem ein Mann: der Liberaldemokrat Clegg.

London. Großbritannien steht heute vor einer Wahlentscheidung, die von allen Seiten, Kommentatoren wie Politkern, schon jetzt als die wohl bedeutendste der britischen Nachkriegsgeschichte gewertet wird. Sie könnte zur Eröffnung eines gänzlich neuen Kapitels in der britischen Politik führen.

Vorhersagen über den Wahlausgang sind so zahlreich wie unverlässlich, weil bis zum heutigen Wahltag noch immer ein Drittel der Wähler sich als unentschieden bezeichnet hat. Das hängt vor allem mit dem phänomenalen Aufstieg einer dritten Partei zusammen, den Liberaldemokraten, die sich unter ihrem attraktiven Spitzenmann Nick Clegg binnen Wochen als fast gleichrangig in das Spiel um die Macht zwischen die beiden etablierten Großparteien geschoben hat. Mit der Vielfalt der möglichen Wahlverläufe steigt auch die Unschlüssigkeit unter den Wählern.

Das ist eine ungewohnte Situation für die Briten. 650 Unterhaussitze stehen zur Wahl, 326 werden benötigt, will die eine oder andere Partei mit absoluter Mehrheit allein regieren. Großbritannien galt bisher als das klassische Zwei-Parteien-Land, wo Labour und Konservative sich seit 65 Jahren im Rotationsverfahren an der Macht abwechselten. Nur einmal, im Februar 1974, erbrachte die Unterhauswahl keine absolute Mehrheit, und Premierminister Harold Wilson wurde Chef einer Minderheitsregierung, weil der knapp unterlegene Kontrahent, Premierminister Edward Heath, keine Koalition mit den Liberalen zustande brachte. Der Versuch mit einer Minderheitsregierung wurde aber schon nach kurzer Zeit abgebrochen: Wilson ließ im Oktober 1974 erneut wählen und konnte als Sieger und diesmal mit absoluter Mehrheit an die Macht zurückkehren.

36 Jahre später steht Großbritannien an einer ähnlichen Wegscheide, jedoch bei grundlegend veränderter Lage. Die Liberalen von 1974 verfügten über dürftige 14 Sitze, die Liberaldemokraten von heute starteten den Wahlkampf bereits mit einem Unterhauspolster von 62, das sich dank ihrer neu gewonnenen Popularität beträchtlich verbessern dürfte. Die Tories dagegen haben eine enorme Hürde zu nehmen, um ihre 193 Sitze auf 326 steigern zu können. Dazu wäre eine Wählerwanderung von sieben bis acht Prozent zu ihren Gunsten nötig, was in solcher Höhe nur bei Tony Blairs Wahlsieg 1997 eintraf.

Bis Ende 2009 sah es freilich so aus, als ob David Cameron, der Anführer der Tories, auf einen ähnlichen Triumph zusteuern würde. New Labour galt nach fast 13 Jahren im Amt verbraucht, "Time For a Change", "Zeit für einen Wechsel", der Slogan der Konservativen, sprach Millionen aus dem Herzen. Dann kam die Entscheidung, die alles veränderte: Gordon Brown und David Cameron stimmten zu, dass während dreier Fernsehdebatten im Monat des Wahlkampfes auch der Chef der Liberaldemokraten, Nick Clegg, neben ihnen auf der Bühne stehen dürfe.

Brown hatte am wenigsten durch diese Entscheidung zu verlieren; er lag so weit hinter Cameron zurück, dass die öffentliche Aufmerksamkeit, die mit dem Fernsehen einhergeht, ihm nur gelegen kam. Dagegen muss Cameron heute seine Bereitschaft zu einem Fernsehwahlkampf zu dritt zutiefst bereuen. Er und seine Berater hatten nicht bedacht, dass Nick Clegg ihnen den Kernpunkt ihrer Aussage streitig machen würde: die Erneuerung der Politik nach den Skandalen der letzten Monate - ein frischer Anfang nach der zunehmenden Stagnation der Labour-Jahre.

Die Liberaldemokraten konnten noch einen weiteren Trumpf ausspielen: die Ungerechtigkeit des britischen Wahlsystems, bei dem nur die Stimmen des jeweils Ersten in den einzelnen Wahlkreisen gezählt werden (das Modell "first past the post", deutsch "wer zuerst den Zielpfosten passiert"), alle anderen verfallen. Eine weit verbreitete Stimmung im Land gibt dem Argument der "LibDems" inzwischen recht, die eine Veränderung zu mehr proportionalem Wahlrecht in Großbritannien dringend nottäte. Clegg wird diese Forderung an erster Stelle einbringen, wenn bei einem Ausgang ohne absolute Mehrheit Koalitionsverhandlungen mit ihm, dem "Königsmacher", anstehen. Mit einer Koalition würde Britanniens Politik einen dramatisch neuen Weg einschlagen.

Die Briten sind gespalten: Angesichts ihrer angeschlagenen Wirtschaft, des zerrütteten Zustands der öffentlichen Finanzen glauben viele, eine breitere Basis als die Regierung nur einer Partei sei nötig. Genau das ist denn auch das Koalitionsargument der LibDems. Brown sieht in dem Plan der Tories, gleich nach der Wahl mit Kürzungen beginnen zu wollen, eine Gefährdung des noch zarten Aufschwungs. Die Konservativen ihrerseits verlegen sich auf die abschreckende Wirkung der Frage "Wollt ihr weitere fünf Jahre mit Gordon Brown?" Wenn heute um 23.00 Uhr deutscher Zeit die Wahllokale schließen, beginnt eine Stimmenauszählung, die das Land bis zum Freitagmorgen wachhalten wird.