Berlin. Die Gefahrenabwehr hat im Fall Taleb A. nicht funktioniert, Behörden müssen ihre Raster erweitern. Lernen kann man aus anderen Feldern.
Drei Minuten reichten aus. 180 Sekunden, um 200 Menschen zu verletzten, mindestens fünf von ihnen zu töten. Unter ihnen ein neun Jahr alter Junge. Auf diese drei Minuten gibt es zwei Sichtweisen. Die erste ist die von jetzt, zwei Tage nach dem Kapitalverbrechen. Der Täter Taleb A. war verurteilt. Er war Menschen in seinem Umfeld aufgefallen. Als jemand, der hetzte und Streit suchte. Er hat 2023 auf der Plattform X damit kokettiert, 20 Deutsche wahllos zu töten – nicht seine einzige schwere Drohung. Die saudischen Dienste warnten vor Taleb A. Und mehrere Personen aus seinem Umfeld machten deutsche Behörden auf ihn aufmerksam.
Wer diese Sichtweise einnimmt, kann schwer nachvollziehen, warum dieser Mann nicht enger bewacht wurde, seine Drohungen nicht vor Gericht landeten. Die Behörden hätten ihn vielleicht in eine Psychiatrie einweisen können, weil er für sich und andere offensichtlich gefährlich ist.
Das ist die eine Perspektive. Die andere spielt ein paar Tage vor der Tat. Da ist ein Mann, seit langem mit sicherem Aufenthaltstitel in Deutschland, Facharzt. Taleb A. ist 50 Jahre alt, mitten im Leben, und weit weg von jungen Dschihadisten, die im Teenageralter für die Sicherheitsbehörden oft unberechenbar sind. Taleb A. war verurteilt, aber nicht wegen Gewalttaten. Es ging um Androhung von Straftaten – Alltagsdelikte der Justiz.
Und auch Menschen, die drohen, hetzen, „etwas Großes“ ankündigen, erlebt die Polizei täglich. „So viele Türen könnten wir gar nicht eintreten, wenn wir allen Fällen nachgehen“, sagt ein Terror-Ermittler.
In dem Behörden immer noch eine Abschiebe-Mentalität pflegen („Sorry, nicht zuständig“)
Das ist die andere Sichtweise. Es fällt schwer, sie zu verstehen – an Tagen, in denen der Schmerz so tief sitzt über die verlorenen Menschen.
Zugleich gibt diese zweite Perspektive einen besseren Blick darauf, welche Realität in Deutschlands Sicherheitsbehörden vorherrscht. Ein Alltag, in dem es noch immer zu wenig gute Anti-Terror-Ermittler für zu viele extreme Köpfe da draußen gibt. In dem Behörden immer noch eine Abschiebe-Mentalität pflegen („Sorry, nicht zuständig“), obwohl sie den Bürgern die ganze Zeit erzählen, wie aufmerksam sie im Kampf gegen Terroristen sein sollen, und dass sie verdächtige Personen unbedingt melden sollen. Ein Alltag, in dem Sicherheitsbehörden noch immer zu wenig Werkzeuge anwenden, um zu filtern: sehr gefährliche von weniger gefährlichen Extremisten. Zu oft obsiegt bei der Bewertung von Gefährdern „Schema F“.
Was klar ist: Im Fall Taleb A. hatte nicht nur das Schutzkonzept des Magdeburger Weihnachtsmarkts fatale Lücken – auch im Vorfeld sind Fehlentscheidungen getroffen worden. Es ist ein Satz, den Journalisten hassen, aber er gilt: Die internen Ermittlungen müssen zeigen, warum Warnungen nicht ernst genommen wurden. Warum Maßnahmen nicht konsequenter verfolgt wurden.
Das alles kostet Zeit. Was jetzt schon klar ist: Die Sicherheitsarchitektur braucht eine Reform. Bundespolizei, Landesbehörden und örtliche Dienststellen müssen ihr Inseldenken endlich aufgeben – und sich stärker als eine deutsche Polizei verstehen. Gleiches gilt für die Nachrichtendienste. Dafür brauchen sie die rechtlichen Grundlagen. Der Föderalismus gehört nicht abgeschafft, aber angepasst.
Und die Terror-Abwehr kann von Strategien im Kampf gegen häusliche Gewalt lernen. In einigen Kommunen gibt es zu jeder schweren Tat oder Androhung eine „Fallkonferenz“. Da sitzt nicht nur die Polizistin, sondern auch der Familienrichter, das Jugendamt und der Sozialpsychiatrische Dienst mit am Tisch.
Acht oder zehn Augen sehen mehr als zwei – es ist simpel. Nur weil jemand nicht ins bekannte Raster passt, heißt es nicht, er ist ungefährlich. Tauschen sich Fachbehörden untereinander aus, legen sie nicht nur ein Raster auf das Täterprofil, sondern vier oder fünf. Gerade die psychologische Intervention wird im Anti-Terror-Kampf an Bedeutung gewinnen, denn viele Attentäter zeigen seelische Erkrankungsmuster. Möglicherweise war es bei Taleb A. auch so.
Lesen Sie auch: Hätte der Anschlag von Magdeburg verhindert werden können?