Brüssel. Sofagate ist vergessen: Der Besuch von EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen in Ankara war wichtig. Worauf es nun für Europa ankommt.
Bloß nicht noch einmal eine peinliche Sofaszene bei Recep Tayyip Erdogan: Zum Krisentreffen mit dem türkischen Präsidenten in Ankara reiste EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen diesmal sicherheitshalber allein, der neue EU-Ratspräsident António Costas als Vertreter der Mitgliedstaaten musste zu Hause in Brüssel bleiben. Bei von der Leyens letztem Besuch vor vier Jahren gemeinsam mit dem damaligen Ratspräsidenten Charles Michel war es zu einem protokollarischen Eklat gekommen, der als Sofagate in die EU-Geschichte einging: Erdogan wies Michel den Stuhl neben sich für Foto und Gespräch auf Augenhöhe zu – während die Kommissionspräsidentin unter Protest mit einem weit entfernten Platz auf dem Sofa vorliebnehmen musste.
Nun hat Erdogan von der Leyen sehr höflich als Solo-Gast empfangen. Nicht nur das ist neu im Verhältnis zwischen EU und Türkei. Nach dem Sturz des Machthabers Assad im benachbarten Syrien haben die in früheren Jahren angespannten Beziehungen zwischen Ankara und Brüssel einen größeren Stellenwert und neuen Schwung bekommen. Der Besuch von der Leyens ist ein wichtiges Signal: Die Europäische Union erkennt Erdogans Einfluss für die Entwicklung in Syrien an, macht aber klar, dass sie ebenfalls eine Rolle spielen kann.
Zweifellos ist die Position der Türkei als wichtige Regionalmacht an der Südostflanke der EU nun deutlich gestärkt. Allerdings hat Ankara in vielen Fragen ähnliche Interessen wie die Europäer: Beide wollen ein stabiles Syrien. Beide müssen verhindern, dass es vor ihrer Haustür zu Entwicklungen wie in Libyen oder Afghanistan kommt.
Syrien: Die EU hat einiges in die Waagschale zu werfen
Und beide hoffen, dass Millionen syrische Flüchtlinge in der Türkei und in der EU bald zurückkehren können in ihr Heimatland. Erdogan verfügt dafür über gute Kontakte auch zu den neuen Machthabern und hat militärisch einen Fuß im Land – wobei auch die EU darauf drängen sollte, dass er diese Präsenz nicht zu einer neuen Eskalation benutzt.
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Aber die EU hat ihrerseits einiges in die Waagschale zu werfen: humanitäre Hilfe, mögliche Wiederaufbauunterstützung und politisches Engagement. Die EU und ihre Mitgliedstaaten haben seit 2011 mehr als 33 Milliarden Euro an Hilfsgeldern für syrische Bürger bereitgestellt, sie sind damit größter internationaler Geber. Jetzt hat Brüssel eine Luftbrücke nach Syrien eingerichtet, ein EU-Emissär führt bereits Gespräche mit der Übergangsregierung in Damaskus. Die Millionen Flüchtlinge, die in Europa Zuflucht gefunden haben und nun vielleicht bald zurückkehren, könnten eine Brücke sein, um die Beziehungen mittelfristig zu vertiefen.
Doch pocht die EU zu Recht darauf, dass die neuen Machthaber das Land nicht nur stabilisieren, sondern auch Minderheitenrechte garantieren und alle relevanten Gruppen an der Regierung beteiligen. Ob diese Erwartungen erfüllt werden, bleibt ungewiss. Die Europäer sollten die Risiken im Auge behalten – und die Grenzen ihrer Möglichkeiten realistisch einschätzen. Die EU ist und wird nicht die zentrale Ordnungsmacht in Nahost. Um ihren Einfluss geltend zu machen, ist auch eine möglichst enge Abstimmung mit der Türkei das Gebot der Stunde.
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