Berlin/Brüssel. Ein Bundeswehr-Zwischenfall mit einem russischen Tanker zeigt die angespannte Lage in der Ostsee. Militärs fürchten bald Schlimmeres.
Die Bundeswehr-Soldaten auf der Fregatte Nordrhein-Westfalen haben einen Verdacht, als sie den russischen Tanker unter Beobachtung stellen. Auch hier in der Ostsee vor der Insel Bornholm ist die Sicherheitslage angespannt, vieles scheint jetzt möglich, zumal der Tanker von einer russischen Korvette begleitet wird: Handelt es sich um ein Schiff jener Schattenflotte, mit der Kremlherrscher Wladimir Putin die Sanktionen beim Ölexport umgeht? Oder hat es einen Spionageauftrag wie Dutzende andere Schiffe in der Ostsee, die für den russischen Geheimdienst Kabel und Pipelines ausforschen? Von der Fregatte Nordrhein-Westfalen steigt ein NH-90-Hubschrauber auf, die Besatzung will sich aus der Nähe ein Bild zu machen.
Doch die Russen reagieren umgehend: Vom Tanker wird Leuchtmunition in Richtung des Bundeswehr-Hubschraubers abgefeuert, nach unbestätigten Berichten wird auch mit einem Maschinengewehr ins Wasser geschossen. Offenkundig eine Warnung, auf Abstand zu bleiben. Ob da jemand bloß überreagiert oder die Bundeswehr gezielt testen will, ist auch eine Woche danach unklar: Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) behandelt die Umstände des brisanten Zwischenfalls als Geheimsache. Seine kargen Einlassungen klingen aber nicht beruhigend: „Warnschüsse in die Luft und Wasser, provozierendes Verhalten - das kennen wir aus dem Kalten Krieg“, sagt der Minister. Es zeige aber auch, „wie nervös Russland ist“.
Doch nervös sind nicht nur die Russen. In der Ostsee nehmen die Spannungen zu, es ist längst mehr als Kalter Krieg zwischen Nato und Russland. Deutschland und die anderen westlichen Anrainer-Staaten klagen über zerstörte Datenkabel, ausufernde Spionage und Provokationen im Luftraum durch die Russen, Zwischenfälle auf hoher See: Die Ostsee sei inzwischen „eine Hochrisikozone“, sagt der schwedische Ministerpräsident Ulf Kristensen.
Ostsee: Russland und China stehen unter Sabotage-Verdacht
Pistorius berichtet von einer „erhöhten Präsenz russischer Marine und ziviler Schiffe“ und sieht eine „hybride Kriegsführung“, was eben auch heißt: Wer hinter den Vorfällen und Anschlägen steckt, ist mitunter nicht sicher zu beweisen – aber Russland und zum Teil auch China stehen regelmäßig unter starkem Verdacht; nur bei den gesprengten Nord Stream-Gaspipelines stellt sich die Lage inzwischen anders dar.
Immer wieder kommt es zu Luftraum-Verletzungen durch russische Militärjets. Eurofighter einer Alarmrotte der Luftwaffe sind durchschnittlich einmal in der Woche im Ostseeraum im Einsatz, um bei Provokationen Präsenz zu zeigen und gegebenenfalls Jets zurückzuweisen. Nur selten erfährt die Öffentlichkeit von solchen Aktionen, etwa im Sommer, als ein russischer SU-24 Bomber die Ostseeinsel Gotland überflog und von zwei schwedischen Kampfjets zur Umkehr gezwungen werden musste. Spektakulärer sind die Fälle von zerstörten Unterseekabeln – allerdings ist es naturgemäß auch schwer bis unmöglich, klare Beweise für einen gezielten Anschlag vorzulegen und Täter zu überführen.
Bei dem Vorfall im Oktober 2023, bei dem die Gaspipeline Balticconnector und zwei Datenkabel zwischen Estland und Finnland beschädigt werden, fällt der Verdacht auf einen chinesischen Frachter mit russischem Kapitän, der von Kaliningrad nach St. Petersburg fuhr. Erst vor drei Wochen wurden wieder zwei Unterseekabel zwischen Finnland und Deutschland und zwischen Schweden und Litauen beschädigt. Diesmal im Verdacht: Das chinesische Frachtschiff „Yi Peng 3“. Es könnte sich um Sabotage gehandelt haben, sagt Pistorius. Nato-Chef Mark Rutte macht Sorgen, dass auch „China mehr und mehr involviert ist“; offenbar gebe es auch hier eine Partnerschaft zwischen Moskau und Peking.
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Die noch größere Sorge westlicher Sicherheitsbehörden aber ist, dass dies nur der Anfang gewesen sein könnte: Russland spioniert, getarnt durch ein Forschungsprogramm, systematisch und in aller Ruhe die sensible Infrastruktur in der Ostsee aus - Datenkabel, Energieleitungen, Windparks, Militäreinrichtungen. Vor einiger Zeit etwa entdeckte die Bundespolizei das russische Spionageschiff Gorigledzhan mitten in einem Windpark vor der Insel Rügen, an Bord bewaffnete Soldaten. „Wir gehen davon aus, dass jedes russische Schiff, auf jeden Fall aber die Forschungs- und Staatsschiffe, einen Spionageauftrag hat“, sagt ein führender Beamter der Bundespolizei. Die hat seit Anfang 2023 in über hundert Fällen russische Schiffe aus der ausschließlichen deutschen Wirtschaftszone eskortiert.
Nato-Experten berichten in Brüssel, dass Russland die kritische Infrastruktur in wichtigen Teilen des Bündnisgebiets bereits genau kartiert hat. Der CDU-Sicherheitssexperte Roderich Kiesewetter warnt, Moskau werde die Daten „eher früher als später auch nutzen: für Sabotage und militärisch.“ Putin hat massiv in den Bereich der Unterwasser-Kriegsführung investiert. Die russische Marine verfügt nicht nur über die klassischen U-Boote, sondern auch über Unterwasserdrohnen und Mini-U-Boote, die Kabel zerstören und Leitungen sprengen können.
Es sei möglich, „großen Schaden anzurichten und unerkannt davon zu kommen“, erläutert der frühere Bundeswehr-General Hans-Werner Wiermann, der für die Nato eine Koordinierungsgruppe zum Schutz von Unterwasserinfrastruktur aufgebaut hat. Im Brüsseler Hauptquartier der Allianz sprechen Experten von einer gestiegenen Bereitschaft der russischen Seite, Risiken einzugehen, Menschenleben zu gefährden und Chaos zu stiften.
„Lohnender Operationsraum“: Die Ostsee ist für Russland und die Nato sehr wichtig
Die Ostsee ist besonders gefährdet, weil die Datenkabel, Stromleitungen und Pipelines in dem relativ flachen Gewässer gut erreichbar sind. Und weil starker Schiffsverkehr perfekte Tarnung bietet. Sie ist aber auch strategisch extrem wichtig: Für die Nato sei die Ostsee die Hauptroute für die militärische Versorgung der drei baltischen Staaten und Finnlands, berichtete Bundeswehr-Flottillenadmiral Christian Meyer kürzlich Fachpolitikern im Bundestag. Das mache das Meer für potenzielle Gegner „zu einem besonders lohnenden Operationsraum.“
Die Ostsee sei aber ebenso für die Versorgung von St. Petersburg, die Exklave Kaliningrad und Großstädte wie Moskau bedeutsam: „Auch für Russland sind alternative Versorgungsrouten kein adäquater Ersatz“, sagt Meyer. Sollte es zu einem militärischen Konflikt kommen, werde das Meer für beide Seiten ein wichtiger Operationsraum sein. Argwöhnisch beobachtet Moskau, wie der Nato-Beitritt Finnlands und Schwedens die strategische Ausgangslage in der Ostsee zu seinen Ungunsten verschoben hat.
Die Nato hat auf die veränderte Sicherheitslage längst reagiert. Sie verstärkt ihre Patrouillen in der Ostsee, arbeitet an neuen Technologien, um Unterwasserleitungen zu schützen, etwa mit Sonarbojen und Drohnen. Die Überwachung von Pipelines und Datenkabeln in der Ostsee soll jetzt noch ausgebaut werden, hieß es beim jüngsten Nato-Außenministertreffen. Gerade erst hat die Allianz ein neues Marinekommando in Rostock in Betrieb genommen, das Schiffsbewegungen und Auffälligkeiten beobachten und eine durchgehende Streitkräfte-Präsenz in der Ostsee gewährleisten soll.
Schon im Mai startete die Nato in London ein Maritimes Zentrum für die Sicherheit kritischer Unterwasserinfrastrukturen (CUI), um Schwachstellen zu identifizieren. Für den Schutz der unmittelbaren Küstengewässer sind hierzulande aber Landes- und Bundespolizei zuständig, die ebenfalls ihre Aktivitäten in der Ostsee ausbauen. Regelmäßig begleitet die Bundespolizei vorsichtshalber Schiffe aus Russland auf dem Weg durch deutsches Hoheitsgebiet, ständig patrouillieren Einsatzschiffe, um bei kritischer Infrastruktur wie Unterseekabeln, Windparks oder Pipelines Präsenz zu zeigen.
Für den Fall der Fälle wird nun auch die Schlagkraft der Bundespolizei erhöht: Um die kritische Infrastruktur im Meer zu schützen und bei Anschlägen auf hoher See reagieren zu können, sind Kräfte der Eliteeinheit GSG-9 künftig auch in Neustadt an der Ostsee stationiert.