Berlin. Alice Weidel ist Spitzenkandidatin der AfD. Sie ist lesbisch, zieht mit einer Frau zwei Kinder groß. Will sie die männerdominierte Partei neu ausrichten?
Es ist schon einige Zeit her, da stand Alice Weidel im südhessischen Viernheim an einem Rednerpult im Saal, vor ihr Anhänger der AfD. Weidel war damals, 2017, bereits vier Jahre in der Partei, jedoch ziemlich erfolglos im Landesverband Baden-Württemberg. Doch dann stieg sie rasant zur Spitzenkandidatin für die Bundestagswahl auf, an der Seite von Alexander Gauland. Eine aufstrebende Karrierefrau, schon damals – in einer Partei, die so männlich ist wie kaum eine andere in Deutschland. In der Bundestagsfraktion der AfD sitzen heute gerade einmal gut zehn Prozent weibliche Abgeordnete.
Weidel aber steht jetzt ganz oben, an der Spitze der Partei, die der Verfassungsschutz als „rechtsextremen Verdachtsfall“ einstuft. Dieses Wochenende hat der Bundesvorstand Alice Weidel in einer Pressekonferenz als „Kanzlerkandidatin“ vorgestellt, im Januar soll der Bundesparteitag sie küren.
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2017 war sie noch wenig etabliert in der Partei, wenige Anhänger kannten sie besser. Und Alice Weidel stand am Mikrofon im Saal von Viernheim und sagte: „Ich bin homosexuell.“ Ein Video zeigt die Szene. Sie lacht ein bisschen, fast verschämt, guckt nach unten. Dann gewinnt sie die Fassung zurück.
Alice Weidels Kritiker sind verstummt, jedenfalls für den Moment
Heute, mehr als sieben Jahre später, hat Weidel parteiinterne Machtkämpfe gewonnen. Sie hat die Partei mit radikalisiert. Und sie hat in der AfD viele Befürworter. Ihre Kritiker sind verstummt, jedenfalls für den Moment. Und so zieht die AfD in den Wahlkampf mit einer lesbischen Frau an der Spitze, die gemeinsam mit ihrer Partnerin zwei Kinder großzieht. Weidel wusste schon 2017, dass ihre Beziehung keine Privatsache bleiben würde. Bis heute wird sie immer wieder gefragt, wie ihr Lebensentwurf vereinbar ist mit den Inhalten der Partei, der sie vorsitzt.
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Genau in der Woche ihrer Rede erschien damals auf „Zeit Online“ ein Gastbeitrag eines früheren schwulen AfD-Mitglieds. Die Überschrift: „Die AfD hat ein Problem mit Homosexuellen.“ Zitiert werden schon 2017 schwulenfeindliche Sprüche, etwa durch den Rechtsextremisten und AfD-Landeschef in Thüringen, Björn Höcke. Oder durch die Bundestagsabgeordnete Christina Baum, die ein Verbot des Christopher Street Day forderte.
Im Parteiprogramm spricht die AfD von einer „Genderideologie“, die Kinder „indoktriniere“
Andere ranghohe AfD-Politiker beteuern in Gesprächen, es sei Platz für Homosexuelle in der Partei. „Jeder dürfe nach seiner Fasson leben“, sagt einer. Das gelte auch für Weidel. Und Vorurteile gegenüber Homosexuellen gebe es auch in anderen Parteien.
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Doch Politik ist auch ein Geschäft mit Glaubwürdigkeit, Christian Lindners FDP lernt das gerade schmerzlich. Und wie glaubwürdig ist Weidels Führung einer Partei, die aktuell ihr Wahlprogramm für die vorgezogenen Neuwahlen im Februar ausarbeitet und im Entwurf von einer „Genderideologie“ und einem „Transkult“ spricht, der Kinder „indoktriniere“. Das Selbstbestimmungsgesetz, mit dem Transmenschen schneller ihr Geschlecht neu eintragen und ihren Namen ändern lassen können, will die AfD abschaffen. Schon 2018 stellte sich die Partei im Bundestag mit einem Antrag gegen die gleichgeschlechtliche Ehe.
Der Queer-Beauftragte der Bundesregierung, der Grünen-Politiker Sven Lehmann, fragt provokant: „Wie viel Selbstverleugnung muss Alice Weidel wohl jeden Tag aufbringen, um Vorsitzende dieser AfD zu sein?“
Alice Weidel muss im Spagat gehen. Das wird deutlich, wenn sie versucht, die AfD mit ihrer Islamfeindlichkeit gleichzeitig als Schutzbastion für Schwule und Lesben zu feiern. Dabei hat Homosexualität im AfD-Parteiprogramm keinen Platz – und wenn doch, dann eben nur als Vehikel, um gegen den Islam („homophob“) zu agitieren.
Weidel muss ihre eigene Identität in das Korsett einer Partei pressen, die in Kindern eine Schlüsselrolle sieht „für die Weitergabe der eigenen Kultur, der Traditionen und der Fähigkeiten ihres Volkes“. Das ist der völkische Unterton der AfD – und daran ist eine zentrale Aufgabe der Väter und vor allem der Mütter geknüpft.
Alice Weidel: „Homosexuell, aber nicht queer“
Weidel ist Mutter, nur eben nicht in einer heterosexuellen Ehe. Sie sagt, sie sehe keinen Widerspruch zur Linie der Partei. Oder ist es doch Alice Weidel, die ihr Korsett um die AfD schnüren will? Dabei lohnt ein Blick auf die Details. Im Programmentwurf für die Wahl im Februar ist der Abschnitt zur Familienpolitik knapp sieben Seiten lang. Im Wahlprogramm 2021 waren es noch doppelt so viele. Damals stand dort gleich am Anfang des Kapitels der Satz: Die Familie bestehe aus „Vater, Mutter und Kindern“. Im aktuellen Entwurf ist dieser Satz nicht mehr zu finden. Es ist eine vermeintliche Kleinigkeit – doch sie kann unter den Anti-Gender-Hardlinern der Partei für Protest sorgen. Protest auch gegen Weidel?
Die Bundesvorsitzende sagt selbst, sie sei homosexuell, aber nicht „queer“. Das Leben mit ihrer in Sri Lanka geborenen Partnerin verheimlicht Weidel nicht. „Wir haben zwei gemeinsame Kinder. Ich fühle mich nicht diskriminiert. Warum auch?“
Zu erkennen ist: Mit Weidels Macht in der AfD wächst auch ihr Selbstbewusstsein. „Sarah, ich liebe dich“, rief Weidel Anfang November plötzlich in das Publikum des Züricher Kongresshauses, in dem ihre Partnerin Bossard saß. Zuvor hatte sie mit den Moderatoren über die Ampelkoalition diskutiert. Doch dann ging sie mit ihrem Privatleben in die Offensive: „Ich bin ihr unglaublich dankbar, dass sie das mitmacht.“ Die beiden hätten sich einen faireren Umgang „mit uns als Paar gewünscht“, so Weidel.
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Fast zeitgleich taucht ein Selfie der beiden Frauen auf dem Instagram-Kanal Bossards auf, auf dem bisher nur wenige gemeinsame Fotos zu finden sind. „Und dann gibt es Tage, die sind wunderschön“, kommentiert Weidels Frau das Foto. „Auf 17 Jahre durchs Leben gehen (...) und aufs Altwerden zusammen“, dazu ein rotes Herz.
„Einfühlsam, emphatisch, fürsorglich“: So will die AfD auftreten
Weidel macht das Private politisch. Sie versucht offenbar, den Kurs der AfD umzusteuern – mit dem Ziel: Frauen in der Partei stärker zu fördern. Seit einigen Monaten, heißt es, arbeite der Vorstand an einem „Mentoren-Programm“. Es soll Politikerinnen nach vorne bringen, auch für Ämter in der AfD vorbereiten – allerdings ohne Frauenquote. Im aktuellen Bundesvorstand ist Weidel allein unter einem guten Dutzend Männern.
Die AfD hat ohnehin ein Problem: Frauen wählen die Partei deutlich weniger als Männer, die Parolen und Provokationen wie auch die Forderungen verfangen stärker bei Männern. Das zeigen Wahlanalysen. Für die AfD wird das zum Problem. In einem internen „Strategiepapier“ des Bundesvorstands liegt ein Fokus darauf, Wählerinnen im anstehenden Wahlkampf zu mobilisieren. Man wolle „noch stärker auf politische Vorlieben und Bedürfnisse von Frauen eingehen“, heißt es in dem neunseitigen Papier, das unserer Redaktion vorliegt. Die AfD wolle demnach „einfühlsam, emphatisch, fürsorglich“ aufzutreten. Und: Laut der Strategen der Partei soll sie auch Frauen ansprechen, „die sich durch feministische Frauen-, Gender- und Quotenpolitik nicht angesprochen fühlen“.
Im Januar trifft sich die AfD zum Bundesparteitag. Dort geht es auch um das Wahlprogramm. Die Spitzenkandidatur zur Wahl dürfte für Weidel keine großen Risiken bringen. Sie gilt als gesetzt, ist an der Parteibasis beliebt. Doch Weidels Streben, die Position von Frauen in der AfD zu stärken, steht auf der Probe. Schon gegen den vermeintlich offeneren Sound bei einigen Details der Familienpolitik kann sich Widerstand regen.
Als die AfD auch bei der Wahl in Brandenburg im Spätsommer einen Erfolg feiert, saß Alice Weidel wieder auf einem Podium. Diesmal mit dabei nicht nur ihr Co-Chef Tino Chrupalla, sondern auch der Brandenburger Landesvorsitzende René Springer. Er ließ sich vor Journalisten über die geringe Zustimmung unter Wählerinnen aus, mutmaßte über Männer, denen es ‚im Blut‘ liege „zu kämpfen“. Weidel reagierte nicht wie 2017, nicht lächelnd, verschämt. Sie gab Springer Kontra auf offener Bühne. „Frauen sind genauso kämpferisch wie Männer“, soll sie laut Medienberichten geantwortet haben.