Berlin. Europas Sicherheitsbehörden gehen nach dem Absturz in Litauen auch dem Verdacht nach, dass es ein Anschlag im russischen Auftrag war.
Der Frachtflug von Leipzig nach Litauen war schon fast am Ziel, als die Maschine mit Paketen der deutschen DHL morgens um kurz vor halb sechs Uhr abstürzte – und Sicherheitsexperten in ganz Europa in helle Aufregung versetzte. Das Flugzeug der spanischen Fluggesellschaft Swift Air, das im Auftrag von DHL unterwegs war, befand sich einen Kilometer vor dem Flughafen Vilnius im Landeanflug, da leitete es eine Notlandung ein, krachte auf den Boden und schlitterte mehrere hundert Meter weit, während Trümmer ein Wohnhaus trafen und in Brand setzten.
Ein aus Spanien stammender Pilot wurde tot geborgen, drei weitere Crew-Mitglieder wurden ins Krankenhaus gebracht, darunter ein Deutscher. Was hinter dem Unglück steckt: Unklar. Die litauischen Polizeibehörden hielten zwar zunächst einen technischen Fehler oder ein menschliches Versagen für wahrscheinlich. Aber: Auch einen Terroranschlag schließen die Sicherheitsbehörden ausdrücklich nicht aus.
Absturz von DHL-Flugzeug: „Sachverhalt schnellstmöglich aufklären“
Der Verdacht zielt kaum verhüllt auf russische Sabotage – die in den letzten Wochen in Europa offenbar größere und gefährlichere Kreise zieht. Auch die deutschen Sicherheitsbehörden sind deshalb nach dem Absturz aktiv. Man stehe „mit allen beteiligten Stellen im In- und Ausland im Austausch, um den Sachverhalt schnellstmöglich aufzuklären“, hieß es in Sicherheitskreisen. Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) sagte, die Behörden beider Länder ermittelten derzeit „in alle Richtungen“. Die Ministerin schloss neben einem technischen Defekt auch die Möglichkeit eines absichtlich herbeigeführten Absturzes nicht aus.
Der Grünen-Geheimdienstexperte Konstantin von Notz sagte unserer Redaktion mit Blick auf frühere Vorfälle: „Wir müssen die genauen Hintergründe dieses Absturzes auch in Kooperation mit unseren Verbündeten jetzt ebenso entschlossen wie umgehend aufklären.“
Denn klar ist: Auch wenn es nach litauischen Angaben zunächst keine Hinweise auf Sabotage oder einen Terroranschlag gab, steht der Verdacht im Raum. Saboteure mutmaßlich im Auftrag Russlands haben schon mehrmals versucht, Frachtflugzeuge des Postdienstleisters DHL zum Absturz zu bringen – nur durch Zufall ist es bisher nicht zu einer Katastrophe gekommen.
Flughafen Leipzig im Juli: Brandsatz in Paketcontainer
Im Juli geriet am Flughafen Leipzig ein Paketcontainer in Brand, ausgelöst durch einen Brandsatz in einer DHL-Express-Sendung aus Litauen. Durch eine glückliche Fügung war das Flugzeug, in das die Sendung umgeladen werden sollte, verspätet. „Wäre das während des Fluges, explodiert, es wäre zu einem Absturz gekommen“, sagte der damalige Verfassungsschutzchef Thomas Haldenwang vor wenigen Wochen bei einer Anhörung im Bundestag.
Die deutschen Sicherheitsbehörden vermuteten verdeckt agierende russische Täter hinter dem versuchten Anschlag, schickten deshalb eine Warnmeldung an Airlines und Logistik-Unternehmen. Der Generalbundesanwalt in Karlsruhe ermittelt. Inzwischen konnte in Litauen ein Verdächtiger festgenommen werden, der für den Versand verantwortlich gewesen sein soll. Wer ihn beauftragte und die Brandsätze herstellte, ist offiziell bisher nicht bekannt. Weitere dieser Pakete mit Brandsätzen tauchten in Großbritannien und Polen auf: Darin elektrische Massagegeräte, in die eine brennbare Substanz auf Magnesiumbasis eingefüllt worden war. Westliche Geheimdienste gingen bisher dem Verdacht nach, dass es sich um einen Probelauf russischer Agenten handelte, die planten, ähnliche Bomben auf Transatlantikflügen in die USA zu platzieren.
Zu diesem Schluss ist auch die polnische Staatsanwaltschaft nach einer internationalen Untersuchung gekommen. Polnische Ermittler hatten Ende Oktober als Teil einer internationalen Aktion vier Personen festgenommen, die im Verdacht stehen, an diesen Testläufen beteiligt gewesen zu sein, gegen zwei weitere Verdächtige wurde ein internationaler Haftbefehl erlassen. Die Gruppe wird auch mit geplanten Anschlägen auf Flughäfen und Industrieanlagen in Verbindung gebracht. Die litauische Regierung in Vilnius sprach damals schon Klartext: Hinter den Angriffen auf die Frachtflüge stehe der russische Militärgeheimdienst, versicherte öffentlich Kęstutis Budrys, der nationale Sicherheitsberater des Präsidenten Gitanas Nausėda. Der Kreml dementierte erwartungsgemäß umgehend und sprach von „verwirrten Fehlinformationen“.
Doch europäische Sicherheitsbehörden sehen ein Muster hinter den Vorfällen. Vieles spricht dafür, dass der russische Präsident Wladimir Putin seinen Schattenkrieg gegen westliche Staaten verschärft - mit Brandanschlägen, versuchten Attentaten, Sabotage an Unterseekabeln, deren Urheberschaft naturgemäß schwer nachweisbar ist. Der Chef des britischen Inlandsgeheimdienstes MI5, Ken McCallum, warnt, der russische Militärgeheimdienst GRU sei auf einer „anhaltenden Mission, Chaos auf den Straßen Europas zu stiften: Wir haben Brandstiftung, Sabotage und mehr erlebt“. Auch Ex-Verfassungsschutzpräsident Haldenwang sagt: „Wir beobachten ein aggressives Agieren der russischen Nachrichtendienste“.
Sabotage durch Russland nimmt zu
Sabotage und Spionage durch Moskaus Agenten und ihre Handlanger nähmen auch in Deutschland zu. Russland nehme dabei die Gefährdung von Menschenleben in Kauf, sagt Haldenwang. Moskaus Bereitschaft zu verdeckten Maßnahmen habe ein „bisher ungekanntes Niveau“ erreicht, Putin wolle rote Linien des Westens testen, sagte Kahl. Eine weitere Verschärfung der Lage sei „alles andere als unwahrscheinlich.“ Auch Nato-Generalsekretär Mark Rutte warnt vor häufigeren russischen Hybridangriffen und meint, die Frontlinie verschiebe sich nicht nur innerhalb der Ukraine.
Der Grünen-Sicherheitsexperte Konstantin von Notz fordert deshalb nun eine schnelle Analyse des Absturzes des DHL-Frachtflugzeugs in Litauen. „In den letzten Monaten gab es wiederholt relevante und sehr ernstzunehmende Hinweise auf Sabotageversuche gegen den Luftfrachtbereich der DHL gerade in Bezug auf den Flughafen Leipzig“, sagte der Grünen-Fraktionsvize und des Geheimdienst-Kontrollgremiums im Bundestag (PKGr) unserer Redaktion. Das Bundesamt für Verfassungsschutz habe „explizit auf diese dramatischen Bedrohungen“ hingewiesen. „Wir müssen die genauen Hintergründe dieses Absturzes auch in Kooperation mit unseren Verbündeten jetzt ebenso entschlossen wie umgehend aufklären.“
Auch die litauischen Ermittler sind deshalb nervös. Ein Terroranschlag „ist eine der Versionen des Absturzes, die untersucht und überprüft werden müssen“, sagte der litauische Polizeichef Arūnas Paulauskas. Deutschland entsendet Experten der Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung (BFU), wie ein Sprecher des Bundesverkehrsministeriums unserer Redaktion sagte. Doch die Suche nach der Absturzursache werde einige Zeit in Anspruch nehmen, meint Polizeichef Paulauskas: „Die Antworten werden nicht so schnell kommen“.