San Francisco. Kremlchef Putin droht oft mit Atomwaffen. Die Ukraine nimmt das ernst. In den USA bereiten sich Experten auf einen atomaren Angriff vor.
Fremde kommen aus drei Gründen nach Idaho: Natur, Natur und noch mal Natur. Die unberührte und ungezähmte Wildnis erwartet sie in den Rocky Mountains oder in den Gebirgszügen an der Grenze zum benachbarten US-Bundesstaat Montana. Wandern, klettern, jagen, angeln. 20 ukrainische Soldaten und Sicherheitsleute nahmen den Weg vom Donbass in den Nordwesten der USA indes aus einem anderen, ernsteren Grund auf sich.
In der Abgeschiedenheit unterhält die „National Nuclear Security Administration“ (NNSA)– die US-Behörde zur nuklearen Überwachung – das „Idaho National Laboratory“ (INL). Hier üben sie, hier lehren sie nukleare Forensik. Hier haben ukrainische Experten zuletzt gelernt, wie sie nach einem atomaren Angriff vorgehen müssten. Wie die USA nimmt die Ukraine – gar noch mehr – die atomaren Drohungen von Kremlchef Wladimir Putin ernst.
Nach einer atomaren Explosion geht es darum, Schutt und Staub zu sammeln und zu sortieren, ihn richtig zusammenzukehren, in strahlengeschützten Behältern zu lagern – in sogenannten Blei-„Molchen“–, zu transportieren und später zu analysieren. Es geht um die Technik, um den richtigen Schutz, um die zweifelsfreie Probe; auch und gerade, weil Russland im Ruf steht, Fehlinformationen zu verbreiten und politisch manipulativ zu sein.
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Ukraine bereitet sich mit nuklearer Spurensicherung vor
Es ist Spurensicherung. Fachleute können die Materialien zurückverfolgen, um einen Angreifer zur Verantwortung zu ziehen. Sie denken an nuklearen Terrorismus. Nach 9/11 haben die Amerikaner gelernt, das Undenkbare dann doch zu denken, wirklich jedes Szenario. Mit den forensischen Übungen haben sie vor knapp 20 Jahren angefangen.
Die Amerikaner denken nicht an Armageddon, nicht an ein Endzeitszenario; wenn alles zerstört ist, hilft das Wissen um die Herkunft der Materialien wenig. Aber die Ukrainer denken an einen Angriff mit taktischen Atomwaffen, die Russland besitzt und zudem in Weißrussland stationiert hat: kleinere „Gefechtsfeldwaffen“, die wie konventionelle Waffen eingesetzt werden, aber eine ungleich höhere zerstörerische Wirkung haben.
Ukrainer nehmen Bedrohung „sehr ernst“
Die Ukraine nehme die Bedrohung „sehr ernst“, beobachtete David Chichester vom INL. Für die Ukraine sei sie „real“, sagte er dem Militärportal „Defense One“. Deswegen haben sie sich gleich nach Beginn des Ukraine-Kriegs Hilfe suchend an die Amerikaner gewandt.
„Es gibt weltweit keinen besseren Ort für die Ausbildung in nuklearer Forensik als die nationalen Labors“, versichert C. J. Johnson, leitender Berater der NNSA. Die US-Experten sind 365 Tage im Jahr auf Abruf bereit. Sie verfügen über Spezialflugzeuge und -ausrüstung, um weltweit mobile Kommandozentralen und Forensiklabors aufzubauen.
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Atomangriff konkret erwogen
An Putins Drohungen scheiden sich die Geister. Es gibt zwei Denkschulen. Boris Bondarew, ein ehemaliger russischer Diplomat, verwies neulich darauf, dass Putin sie jedes Mal aussprach, wenn der Westen der Ukraine mit modernen Waffen half, sei es Himars, Leopard-Panzer oder Atacms-Raketen.
Jedes Mal wurde eine vermeintliche rote Linie übertreten, und es passierte nicht viel. Die Antwort fiel konventionell aus. Zu diesem Muster passt der jüngste Angriff mit einer Mittelstreckenrakete, die keinen atomaren Sprengkopf trug, sondern konventionell bestückt war. Leere Drohungen nur?
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Zur zweiten Schule gehört wohl Markus Reisner, ein angesehener österreichischer Militärexperte. Der Oberst erinnerte bei ntv an eine frühe Episode des Ukraine-Kriegs, die vielen verborgen blieb. Im Herbst 2022 waren 35.000 russische Soldaten bei Cherson eingekesselt: die Brücken über den Dnipro – zerstört. Die provisorischen Übergänge – unter Dauerfeuer. Damals erfuhr der US-Geheimdienst, „dass die reale Gefahr eines Atomschlags bestand“. Auf taktischer Führungsebene der Russen wurde er erörtert.
Putins vermeintliche rote Linie
Die Amerikaner sandten zwei Signale aus. Russland machten sie klar, dass sie in so einem Fall eingreifen würden; und der Ukraine, dass sie den Abzug der Russen tolerieren sollten. Reisner verweist auf eine britische Zeitung, wonach die damalige Premierministerin Liz Truss in jenen Tagen Wetterberichte studierte: Sie wollte wissen, ob es im Falle einer Atomexplosion zu einem nuklearen Fallout über Großbritannien gekommen wäre.
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Reisner vermutet, dass auch Bundeskanzler Olaf Scholz davon wusste. Es würde seine Zurückhaltung erklären. Die Ukrainer haben die 35.000 Soldaten ziehen lassen, aber die Bedrohung jener Tage nie vergessen. Der Ausflug nach Idaho ist wahrlich keine Paranoia.
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