Washington. Drei Wochen bis zur Wahl und die Demokratin schwächelt. Ihre Nähe zu Biden und fehlende Angriffe auf Trump lassen selbst Parteifreunde zittern.
Dinge drastisch auf den Punkt zu bringen, ist James Carvilles Paradedisziplin. Dem demokratischen Erfinder des einst Bill Clinton Rückenwind verleihenden Wahlspruchs „Auf die Wirtschaft kommt es an, Dummkopf“ schlottern nach eigenen Worten drei Wochen vor dem Wahltag in den USA die Knie. Weil sich im eingefrorenen Kopf-an-Kopf-Rennen um die 48 Prozent zwischen Donald Trump und Kamala Harris immer noch nichts bewegt. Weil sich ein „nail-biter“ abzeichnet am 5. November, eine echte Zitterpartie. Und das, obwohl Donald Trump zuletzt durch wahrheitsentkernte Äußerungen über angeblich Haustiere essende Haitianer und unterlassene Hilfeleistung der Regierung in den Hurrikan-geplagten Bundesstaaten neue Bestmarken der Unwahrheit gesetzt hat.
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Carville, der schlitzohrige Stratege aus New Orleans, vermisst bei der Vizepräsidentin und ihrer Kampagne den „Killerinstinkt“. Die am Wochenende 60 Jahre alt werdende Ex-Staatsanwältin agiert ihm und anderen Wahlkämpfern links der Mitte auf der Zielgeraden des Wahlkampfs nicht kompromisslos und aggressiv genug, um den Kontrast zum Republikaner herauszumeißeln; auf dass sich unmotivierte oder noch unentschlossene Wähler ihr anschließen könnten.
US-Wahlen: Beobachter überzeugt, dass Harris mehr in die Vollen gehen sollte
Derzeit sieht es für die Kalifornierin nicht berauschend aus. Die Euphorie der ersten Wochen, als Joe Biden über Nacht Geschichte wurde und Kamala Harris die Zukunft adoptierte, ist lange verflogen. Auch aus ihrem Sieg im TV-Duell gegen Trump hat sie kein nachhaltiges Momentum destilliert. Wo Biden vor vier Jahren mit rund zehn Prozentpunkten vor Trump rangierte, verzwergen die Vorsprünge bei Harris heute auf volatile zwei bis drei Prozentpunkte. Was de facto binnen der Fehler-Marge liegt. Vulgo: unentschieden; aber zurzeit mit mehr spielerischen Anteilen für den Republikaner. Warum das so ist?
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„Zu viele Happy-Hour-Interviews und Lifestyle-Talkshows“, geht in Washington die Standard-Kritik unter Demokraten, „zu viel übervorsichtige Taktiererei und Worthülsen-Rhetorik, die oft ausweicht, wenn es zur Sache geht“. James Carville sagt, was viele Parteigänger nur denken. „Ich habe Todesangst und die Zeit ist sehr, sehr knapp.“
Auch andere Beobachter sind überzeugt, „dass Harris mehr tun könnte – und sollte“, wie der Publizist Alex Shephard in „The New Republic“ formuliert. So wird ihr als strategischer Fehler ausgelegt, keinerlei Distanzierung von Noch-Chef Joe Biden erkennen zu lassen. Als sie neulich in der quotenstarken und vor allem von Frauen eingeschalteten TV-Plauder-Runde „The View“ gefragt wurde, ob sie rückblickend irgendetwas anders gemacht hätte als der 81-jährige Amtsinhaber, antwortete Harris ohne langes Zögern: „Mir fällt nichts ein.“
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Für eine Kandidatin, die für sich in Anspruch nimmt, einen „neuen Weg in die Zukunft“ anzubieten, „etwas sehr dürftig“, finden selbst Parteifreunde und wünschen sich ein Stück mehr Selbstkritik, was etwa die in den ersten Jahren der Biden-Harris-Administration versaubeutelte Lage an der amerikanisch-mexikanischen Grenze anbelangt, wo so viele Asylsuchende ins Land gelassen wurden wie selten zuvor. Oder die Tatsache, dass es Joe Biden bis heute nicht gelungen ist, Israels Premier Benjamin Netanjahu zu mehr Umsicht gegenüber der palästinensischen Zivilbevölkerung zu zwingen; etwa durch einen Zulieferer-Stopp bei Raketen und Bomben.
Kamala Harris bei Fox News: Das wünschen sich ihre Unterstützer
Nicht nur James Carville hat Zweifel, ob die Harris-Strategie, klassische Medien, die Nachrichten setzen und Debatten lostreten, links liegen zu lassen und stattdessen in Quasselstrippen-Veranstaltungen von Stephen Colbert und Howard Stern zu gehen, wirklich die nötige Wucht entfaltet. Darum ist man froh in diesen Kreisen, dass Harris sich am Mittwochabend in die Höhle des Löwen wagt: zu Fox News; der Sender, der Trump huldigt und Demokraten in Interviews gerne mit Ich-hab-dich-erwischt-Fragen vorführt.
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Was sie dort sagen soll aus Sicht von Ratgebern? Dass Trump nie der war, für den er sich jetzt ausgibt. Dass er die Krankenversicherung seines Vorgängers, „Obamacare“, schlachten statt stärken wollte. Dass der durch Trump rechtslastig gewordene Supreme Court auf Jahrzehnte eine ideologische 6-3-Schlagseite bekommen würde, weil die betagten Richter Clarence Thomas und Samuel Alito dann einfach durch zwei jüngere „Rechtsaußen“ ersetzt würden.
Dass man Trumps Beteuerungen beim Streitthema Abtreibung nicht trauen darf, weil er und die Republikaner bei passenden Mehrheitsverhältnissen im Kongress versuchen würden, ein nationales Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen zu erlassen.
Barack Obama springt Kamala Harris zur Seite
Dass Trumps Gelüste nach Massenabschiebungen von illegalen Einwanderern eine Art Neutronenbombe für die amerikanische Wirtschaft darstellen: milliardenschwere Einnahmeverluste für den Fiskus und Schocks für den Arbeitsmarkt in Schlüsselindustrien wie Bau, Landwirtschaft und Gastgewerbe.
Dass schließlich die von Trump versprochenen Zölle auf Auslandsimporte nur eines erzeugen würden: höhere Rechnungen für Familien mit niedrigen Einkommen.
Als Beispiel dafür, wie es aussehen könnte, würde Harris den Schalter umlegen, ihre extreme Fehlervermeidungsstrategie abstreifen und den Turbo einschalten, sehen die Demokraten den konfrontativ-munteren Einsatz von Barack Obama. Der 44. US-Präsident las kürzlich in Pittsburgh der Wählergruppe männlicher Afroamerikaner die Leviten, als er ihnen unterstellte, sie hätten wohl Probleme mit einer weiblichen Präsidentin. Seine Botschaft: Das könnt ihr vergessen. Jetzt ist die Frage, was Kamala Harris daraus macht.