Straßburg. Zu viele Männer und ein Rechtsaußen im neuen Team von EU-Kommissionschefin von der Leyen. Wer wichtig wird, warum Verspätung droht.

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat die entscheidenden Weichen für ihre zweite Amtszeit gestellt: Am Rande einer Parlamentssitzung in Straßburg präsentierte die 65-Jährige ihr künftiges Team mit 26 Kommissaren aus den EU-Mitgliedstaaten – sie stehen an der Spitze einer Art EU-Regierung mit 26 Ressorts. Von der Leyen will sechs Vizepräsidenten berufen, neu sind eigene Kommissarsposten für Verteidigung (Andrius Kubilius aus Litauen) und die Mittelmeer-Region (die Kroatin Dubravka Suica).

Die Vorbereitungen verliefen allerdings holprig, die Präsentation musste verschoben werden. Brisant: Ein Rechtsaußen aus Italien soll einen Vizepräsidentenposten erhalten. Und trotz aller Bemühungen verfehlt das Spitzenteam, von der Leyen eingerechnet, mit elf Frauen und 16 Männern die angestrebte Geschlechterparität deutlich. Ob die Kommission wie geplant so zügig vom Parlament bestätigt wird, dass das Team am 1. November starten kann, ist auch deshalb ungewiss. Parlamentsvizepräsidentin Katarina Barley (SPD) kündigt bereits eine gründliche Prüfung an: „Ein einfaches Durchwinken wird es nicht geben“, sagte Barley unserer Redaktion. Diese Kommissare sollte man kennen:

Kaja Kallas, EU-Außenbeauftragte

Kallas war schon Ende Juni beim EU-Gipfel für das Amt ausgewählt worden, als Nachfolgerin von Josep Borrell. Sie wird auch die Sicherheitspolitik verantworten. Die 47-jährige Juristin war bis zum Sommer Estlands erste Ministerpräsidentin, saß auch schon im EU-Parlament. Kallas setzt sich in der EU massiv für eine bedingungslose Unterstützung der Ukraine und für stärkere Verteidigungsanstrengungen Europas ein. Russlands Präsident Wladimir Putin lässt seit Februar mit Haftbefehl nach Kallas fahnden. Begründung: Angeblich feindselige Handlungen gegen Russland und „Schändung des historischen Gedächtnisses“ – Kallas hatte Denkmäler für Sowjetsoldaten abreißen lassen. Sie ist damit die erste westliche Top-Politikerin auf Russlands Fahndungsliste.

Berlin Hosts Ukraine Recovery Conference
Kaja Kallas, designierte EU-Außenbeauftragte. © Getty Images | Sean Gallup

Teresa Ribera, Erste Vizepräsidentin für Klima und Wettbewerb

Die Spanierin ist die einzige Sozialistin von Gewicht in der Kommission. Die 55-jährige Juristin ist seit vielen Jahren in verschiedenen Ämtern mit Klimaschutzfragen befasst, seit 2018 Ministerin für ökologischen Wandel in der spanischen Regierung. Jetzt soll sie als Erste Vizepräsidentin die Umsetzung des Green Deal für Klima- und Umweltschutz überwachen, hat dabei aber auch Verantwortung für die Wettbewerbspolitik. Ribera ist selbstbewusst und dürfte für von der Leyen schnell unbequem werden: So hatte die engagierte Atomkraft-Gegnerin von der Leyens Sinneswandel zu einem Pro-Atomkraft-Kurs als „großen Fehler“ bezeichnet. Die christdemokratische EVP, die auf eine wirtschaftsfreundliche Kursänderung beim Green Deal pocht, ist über die Personalie nicht erfreut.

Arrivo dei politici al Consiglio dei ministri
Der italienische Europaminister Raffaele Fitto © picture alliance / ZUMAPRESS.com | Cecilia Fabiano

Raffaele Fitto, Vizepräsident für Regionalförderung und Reformen

Die umstrittenste Personalie: Fitto gilt zwar in der italienischen Rechts-Regierung von Ministerpräsidentin Giorgia Meloni als Pragmatiker. Er soll für Meloni die Beziehungen Roms zur EU verbessern. Aber der 55-jährige Europaminister aus Apulien gehört den rechtspopulistischen Fratelli d‘Italia an. Fitto war von 2014 bis 2022 auch schon im EU-Parlament und führte dort die rechtskonservative EKR-Fraktion an, der Jurist gilt als relativ europafreundlich.

Die Nominierung soll jetzt wohl Brücken bauen – nachdem Meloni beim EU-Gipfel von der Leyen die Unterstützung für eine zweite Amtszeit versagt hatte. Nun darf Italien einen zentralen Wirtschaftsposten besetzen, als Vizechef hat Fitto die Hand auf üppigen Fördermitteln aus dem Kohäsionsfonds für regionale Entwicklung und dem Sozialfond. Vor allem Liberale, aber auch Grüne und Sozialdemokraten kritisieren seine Nominierung. „Ein exponiertes Amt für einen ausgewiesenen Rechtspopulisten ist das falsche Signal einer gefährlichen Verschiebung nach rechts“, sagt Grünen-Fraktionschefin Terry Reintke.

Maros Sefcovic, Handel

Der 57-jährige Slowake beginnt jetzt seine vierte Amtszeit als Kommissar, das gab es noch nie in der EU. Sefkovic wird zuständig für Handel und wirtschaftliche Sicherheit. Der frühere Karriere-Diplomat von der linkspopulistischen Smer-Partei hat sich als von der Leyens Feuerwehrmann bewährt: Wo es kriselt, ist er oft zur Stelle, etwa beim Brexit-Management oder beim Green Deal.

Piotr Serafin, Haushalt

Für das Haushaltsressort gab es viele Bewerber, doch der 50-jährige Serafin konnte sich auf den Einfluss seines Vertrauten, des polnischen Premiers Donald Tusk verlassen. Tusk pochte auf das einflussreiche Ressort für Polen, weil er in der christdemokratischen EVP-Familie als einer der starken Fürsprecher von der Leyens auftritt. Serafin hat lange Europaerfahrung, er nahm schon an den polnischen Beitrittsverhandlungen teil und diente Tusk in Brüssel als Kabinettschef, als dieser EU-Ratspräsident von 2014 bis 2019 war. Aktuell ist Serafin noch polnischer EU-Botschafter in Brüssel. Er weiß, wie man mit den Hauptstädten verhandelt. Polen hat damit aber auch eine Schlüsselstellung, nicht nur als größter Nettoempfänger von EU-Fördergeldern, sondern auch, wenn es um die Vorbereitungen des ukrainischen EU-Beitritts geht, die mit großen Änderungen im gemeinsamen Etat einhergehen wird.

Magnus Brunner, Innen und Migration

Der österreichische Finanzminister war eigentlich als Kommissar für ein Wirtschaftsressort gehandelt worden, jetzt besetzt der .. 52-jährige Christdemokrat eine strategisch wichtige Position: Er verantwortet das Thema innere Sicherheit und Migration; die Zuwanderung macht die EU-Staaten zunehmend nervös, der politische Druck ist groß. Brunner gilt als spröde, aber besonnen und erfahren. In seinen Händen liegt nun die schwierige Umsetzung des EU-Asylpakets.

Stéphane Séjourné
Stéphane Séjourné, Außenminister von Frankreich © DPA Images | Soeren Stache

Stéphane Séjourné, Vizepräsident für Industrie

Der amtierende Kurzzeit-Außenminister Frankreichs ist erst am Montag in letzter Minute nominiert worden – als Ersatz für den ursprünglich benannten Thierry Breton, der sich als amtierender Binnenmarktkommissar mit von der Leyen so gestritten hatte, dass sie in Paris unsanft auf seine Auswechslung drängte. Jetzt soll er sich um die europäische Industriestrategie und Wohlstand kümmern, ein politisches Schlüsselressort. Der liberale Séjourné ist ein enger, langjähriger Vertrauter von Präsident Emmanuel Macron – er war bis Jahresanfang noch EU-Abgeordneter und Vorsitzender der Renew-Fraktion im Parlament. Der 39-Jährige ist das einzig offen homosexuelle Mitglied der Kommission.

Von der Leyen hatte die für vergangenen Mittwoch angekündigte Präsentation ihrer Vorschläge absagen müssen. Offizieller Grund: EU-Mitglied Slowenien hat – auf Bitten von der Leyens – im letzten Moment seinen Kandidaten ausgetauscht und nun die Diplomatin Marta Kos nominiert, die zur Belohnung das wichtige Ressort für EU-Erweiterung übernehmen soll, aber nicht rechtzeitig die Hürde im heimischen Parlament in Ljubljana nehmen konnte. Hinter von der Leyens Verspätung steckt ein größeres Problem: Die Regierungen der Mitgliedstaaten nominierten in der Mehrzahl Männer für die wichtigen Posten – fast alle widersetzten sich dem Wunsch, sowohl einen männlichen als auch einen weiblichen Kandidaten zu benennen, zwischen denen von der Leyen wie 2019 auswählen wollte. Für die Präsidentin ist das zum Start ihrer zweiten Amtszeit eine Niederlage; erzwingen kann sie nichts, sie ist auf den guten Willen der Mitgliedsstaaten angewiesen, denen jeweils ein Sitz in der Kommission zusteht. Zum Ausgleich besetzt sie jetzt vier der sechs Vizepräsidenten-Posten mit Frauen und sagt, beim Thema Gleichstellung „ist noch viel zu tun.“

Neue EU-Kommission: Der Zeitplan wackelt

Nun ist der ursprüngliche Zeitplan, nach dem das Parlament die Vorschläge im Oktober abgesegnet hätte und das Team am 1. November starten könnte, kaum noch zu halten. Die Kandidaten werden in den Fachausschüssen geprüft und in Einzelfällen auch zurückgewiesen – 2019 etwa fielen Bewerber aus Ungarn, Rumänien und Frankreich durch. Diesmal gilt der bisherige Erweiterungskommissar Olivér Várhelyi als besonders umstrittener Kandidat. Die Grünen-Fraktionschefin Terry Reintke droht schon damit, per Veto einen höheren Frauenanteil in der Kommission zu erzwingen. „Wir leben nicht mehr in den fünfziger Jahren“, sagt Reintke. Mit der Bestätigung des Spitzen-Teams rechnen viele Parlamentarier erst ab November – damit könnte die Kommission frühestens am 1. Dezember starten.

Parlaments-Vizepräsidentin Barley sagte unserer Redaktion, die politische Lage in vielen EU-Mitgliedsländern habe eine Kommission beschert, die „deutlich weiter rechts stehen wird als die letzte“. Dies sei schon allein an der fehlenden Geschlechterparität spürbar. Es liege jetzt am Europäischen Parlament, den Wählerwillen in die Kommissionsbildung einzubringen. Barley betonte, die sozialdemokratische S&D-Fraktion werde jeden einzelnen Vorschlag genaustens prüfen. „Unverhandelbar sind dabei unter anderem die Einhaltung des Green Deals oder unser Bekenntnis zur Unterstützung der Ukraine.“ Die Vizepräsidentin fügte hinzu: „Dafür werden wir uns im EU-Parlament die Zeit nehmen, die wir dafür benötigen.“