Berlin. Irmgard Furchner wurde für ihre Arbeit als KZ-Sekretärin rechtskräftig verurteilt. Es könnte das letzte Urteil dieser Art gewesen sein.

Fast 80 Jahre, nachdem das Morden in den Konzentrationslagern mit der Kapitulation des Deutschen Reiches ein Ende fand, ist Irmgard Furchner doch noch rechtskräftig verurteilt worden. Es ist womöglich das letzte Urteil gegen Täter des NS-Regimes

Der Fall, der zuletzt vor dem Bundesgerichtshof gelandet war, hatte eine hohe symbolische Bedeutung: Im Mittelpunkt stand die Frage, ob die ehemalige Sekretärin des Lagerkommandanten des KZ Stutthof bei Danzig von den Verbrechen überhaupt etwas mitbekommen habe. Man könne ihr schließlich nicht in den Kopf gucken, sagte einer der Verteidiger der 99 Jahre alten Angeklagten, die während des Prozesses vor dem Landgericht Itzehoe im Jahr 2022 konsequent geschwiegen hatte.

Eine hochbetagte Angeklagte im Rollstuhl, deren Prozessfähigkeit von einem Arzt stetig überprüft wurde, und die am Ende wegen Beihilfe zum Mord an mehr als 10.000 Gefangenen zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren auf Bewährung verurteilt wurde und dagegen dennoch Revision einlegte – dieser Prozess hatte manch bizarre Züge. Im Raum stand unter anderem die Frage, ob solch aufwändige Verfahren gegen greise Helfer des Nazi-Regimes ohne direkte Tatbeteiligung überhaupt noch sinnvoll und verhältnismäßig seien. Dazu bestand die Sorge, dass der BGH das Urteil womöglich verwerfen und Irmgard Furchner freisprechen könnte oder dass sie vor Ende des Prozesses sterben würde, ohne dass die Schuldfrage geklärt worden wäre. Beides wäre als Niederlage jener im deutschen Rechtssystem verstanden worden, die sich für die Fortsetzung der Strafverfolgung von Nazi-Verbrechen aussprechen, solange noch Täter leben.

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Nationalsozialismus: Nürnberger Prozesse gelten als Vorbild für Umgang mit Kriegsverbrechern

So aber ist eben doch noch einmal Recht gesprochen worden, womöglich als Schlusspunkt unter dem über Jahrzehnte in Deutschland mit unterschiedlicher Intensität betriebenen Versuch, möglichst viele Täter und Mittäter des größten Menschheitsverbrechens mit den Mitteln des Rechtsstaates zur Verantwortung zu ziehen.

Ausgangspunkt dieser juristischen Aufarbeitung war der so genannte Hauptkriegsverbrecherprozess, der ab Oktober 1945 für ein Jahr vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg stattfand. Unter dem Vorsitz von Richtern aller vier Siegermächte wurden 24 deutsche und österreichische Funktionäre des NS-Regimes angeklagt. 22 wurden verurteilt, davon 12 zum Tod durch den Strang.

Der erste Nürnberger Prozess wurde international wie in Deutschland selbst mit großem Medieninteresse und intensiver Beteiligung und Diskussion der Öffentlichkeit verfolgt. Er gilt international als Vorbild für den Umgang mit Kriegsverbrechern und ist als solcher bis heute im kollektiven Gedächtnis präsent.

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Später ging die Verfolgung der Nazitäter an die deutsche Gerichtsbarkeit über, die in der Bundesrepublik der 1950er und 1960er Jahre auch dadurch geprägt war, dass zahlreiche Juristen der NS-Zeit bruchlos in das westdeutsche Justizsystem übernommen wurden.

Das ehemalige KZ Stutthof
Ein Blick auf das ehemalige Konzentrationslager Stutthof. © DPA Images | Jan Dzban

Auschwitz-Prozess: Verhalten mancher Polizisten war skandalös

Erst 1963 begann in Frankfurt am Main der erste Prozess gegen Verantwortliche des Vernichtungslagers Auschwitz. Er kam vor allem durch das große Engagement des Oberstaatsanwalts Fritz Bauer zustande, der eine akribische Beweisführung entwickelte. Sie war auch deshalb nötig, weil die Angeklagten es systematisch vermieden, sich gegenseitig zu belasten und die Hauptschuld dem 1947 hingerichteten Lagerkommandanten Rudolf Höß zuschoben. Die Tatsache, dass einige Polizisten salutierten, als die angeklagten ehemaligen SS-Offiziere den Gerichtssaal verließen, gehörte zu den skandalösen Begleitumständen des Prozesses, der in Teilen der deutschen Öffentlichkeit als überflüssig oder als Nestbeschmutzung betrachtet wurde. Er endete schließlich 1965 nach 183 Verhandlungstagen mit der Verurteilung von 16 ehemaligen SS-Angehörigen, zum Teil zu lebenslanger Haft.  

Bis ins Jahr 2011 wurde die konsequente Verfolgung von Verbrechen in den Konzentrationslagern dadurch behindert, dass die Gerichte nur Verfahren zuließen, in denen Täterinnen und Tätern die konkrete und unmittelbare Mordbeteiligung nachgewiesen werden konnte.

Erst im Fall des Wachmannes im KZ Sobibor John Demjanjuk wich das Landgericht München von diesem Grundsatz ab und verurteilte ihn wegen Beihilfe zum Mord an 28060 Meschen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren, obwohl ihm keine konkrete Tat individuell nachgewiesen werden konnte. Dies bedeutete eine Kehrtwende in der bundesrepublikanischen Rechtsgeschichte und ermöglichte zahlreiche Verfahren wie jenes gegen Irmgard Furchner.

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Prozess gegen NS-Mittäterin: „Zeit ihres Lebens nicht sicher sein“

„Die deutsche Justiz hat viele Jahre weggeschaut. Jetzt schaut sie wieder hin“, sagte damals der Ermittler der Ludwigsburger Zentralstelle für die Aufklärung von NS-Verbrechen“, Thomas Walther. Doch dadurch werde das zuvor Versäumte nicht wiedergutgemacht. „Das ist ein grauer Schatten auf alle diesen Verfahren, dass eben Jahrzehnte nichts oder fast nichts gemacht worden ist in diesem Bereich.“ Insgesamt sind über 7000 Angeklagte wegen Beteiligung an NS-Verbrechen in der Bundesrepublik verurteilt worden.

Es gebe Straftaten, die nicht verjährten, hatte der Richter im Itzehoer Prozess erklärt. Die, die sie begangen hätten, sollten sich Zeit ihres Lebens nicht sicher sein, nicht doch noch verfolgt zu werden. Das sei der Grund für diesen Prozess.