Washington/Brüssel. Alles über den Nato-Gipfel in Washington: Beschlüsse, Gegner, die Rolle von Biden, Scholz & Co. – und das heimliche Gipfelthema.

Jubiläumsgipfel der Nato in Washington: Zum 75. Geburtstag der transatlantischen Militärallianz treffen sich die Staats- und Regierungschefs der 32 Nato-Staaten drei Tage lang in der US-Hauptstadt. Sie wollen über die Unterstützung für die Ukraine, die Abschreckung von Russland und den Umgang mit China beraten. Doch das inoffizielle Hauptthema des Gipfels bei US-Präsident Joe Biden ist ungeplant ein anderes – der Gastgeber selbst.

Welches Jubiläum feiert die Nato?

Die Nato hat sich am 4. April 1949 gegründet. An diesem Tag unterzeichneten in Washington die Vertreter der USA, Kanadas und von zehn europäischen Staaten den Nordatlantikvertrag als Reaktion auf die Bedrohung durch die Sowjetunion. Deutschland kam 1955 dazu. In acht Erweiterungsrunden wuchs die Nato auf 32 Staaten, zuletzt wurden Finnland und Schweden aufgenommen. Die offizielle Botschaft ist klar: „Die Nato ist größer, stärker und einiger als je zuvor“, sagt Generalsekretär Jens Stoltenberg. Doch dahinter verbergen sich große Sorgen, nicht nur wegen des Ukraine-Krieges.

Nato-Flagge
Die Flagge der Nato. Das Emblem, ein blau-weißer Kompass auf dunkelblauem Hintergrund, wurde erst vier Jahre nach Gründung der Allianz eingeführt. © DPA Images | Robert Michael

Wie läuft der Nato-Gipfel ab?

Das offizielle Programm sieht zum Auftakt eine feierliche Geburtstagszeremonie vor in dem Saal des Andrew-W.-Mellon-Auditoriums, in dem der Pakt vor 75 Jahren besiegelt wurde. Am Mittwochmittag – wenn es bei uns schon Abend ist – soll in einer ersten Arbeitssitzung die Gipfelerklärung beschlossen werden, später folgt ein Dinner im Weißen Haus. Am Donnerstag sind zwei weitere Sitzungen geplant, erst zusammen mit den Partnerstaaten der Indopazifik-Region und den offiziellen Vertretern der EU, dann mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj im Rahmen des Nato-Ukraine-Rates. Fast wichtiger als diese Sitzungen sind die Gespräche der Regierungschefs am Rande des Gipfels. Der britische Premier Keir Starmer feiert seine Premiere auf internationaler Bühne, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron muss nach den Turbulenzen daheim seine Kollegen beruhigen, der ungarische Premier Viktor Orban möchte gern über seine „Friedensmission“ in Moskau und Peking berichten. Kanzler Olaf Scholz (SPD) will auf weitere Hilfen für die Ukraine, etwa bei der Luftabwehr, drängen.

Nato-Chef Stoltenberg leitet beim Gipfel nach zehn Jahren seinen Abschied ein, sein Nachfolger Mark Rutte, der am 1. Oktober übernimmt, wird sich schon mal warmlaufen. Die größte Aufmerksamkeit wird allerdings Gastgeber Biden bekommen: Die Debatte über den Gesundheitszustand des 81-Jährigen und seine geistige Fitness liegt nach dem verpatzten TV-Duell wie ein Schatten über dem Gipfel, jeder Schritt des Präsidenten wird genau beobachtet – und auch das zentrale Thema von Bidens Abschlusspressekonferenz in der Nacht zum Freitag steht damit schon fest.

Was wird der Nato-Gipfel beschließen?

Drei Schwerpunkte sind geplant: Abschreckung, Ukraine-Hilfe, China. Der Gipfel wird eine Zwischenbilanz der Nato-Bemühungen ziehen, die Abschreckung gegenüber Russland zu verstärken. Die europäischen Nato-Staaten haben seit 2014 ihre Verteidigungsausgaben mehr als verdoppelt, sie liegen in diesem Jahr bei 380 Milliarden Euro – 23 der 32 Nato-Staaten erfüllen in diesem Jahr die Verpflichtung, mindestens zwei Prozent ihres Bruttosozialprodukts in die Verteidigung zu investieren.

Nato-Außenministertreffen
Die Flaggen der Nato-Mitgliedsstaaten flattern im Wind vor dem Nato-Hauptquartier. © DPA Images | Virginia Mayo

Stoltenberg spricht von einer „historischen Verbesserung der Lastenverteilung in der Nato“. Der Aufbau von acht multinationalen, kampfbereiten Missionen im Baltikum, Polen und Südosteuropa macht Fortschritte, ebenso die Umsetzung von umfassenden Verteidigungsplänen, die jedem Nato-Staat im Kriegsfall klar umrissene Aufgaben in einer festgelegten Region zuweisen. Stoltenberg rühmt auch, dass das Bündnis laut Plan nun 500.000 Soldaten in hoher Bereitschaft hat – Teil eines Mobilisierungsplans, nach denen etwa 100.000 Soldaten in bis zu zehn Tagen abmarschbereit sein sollen und weitere 200.000 in 10 bis 30 Tagen. Die Gipfelteilnehmer werden auch eine Erklärung unterzeichnen, in der sie sich zur Stärkung der Verteidigungsindustrie durch eine nachhaltige Nachfrage verpflichten.

Welche Hilfe wird der Ukraine versprochen?

Die Unterstützung der Ukraine ist laut Stoltenberg „die vordringlichste Aufgabe beim Gipfel“. Die Ukraine drängt auf einen Beitritt zur Nato, aber die erhoffte Beitrittseinladung – die bei einem Gipfel vor einem Jahr in Vilnius nur vage in Aussicht gestellt wurde – wird es auch in Washington nicht geben. Auf der Bremse stehen vor allem die USA und Deutschland, weil sie eine Eskalation im Konflikt mit Russland befürchten. Gerungen wurde bis zuletzt um die genaue Formulierung in der Gipfelerklärung. Wahrscheinlich werden die Regierungschefs erklären, dass umfangreiche Ukraine-Hilfen die „Brücke zur Mitgliedschaft“ sind.

Das Hilfspaket sieht erstens vor, dass die Nato die Koordinierung der internationalen Waffenlieferungen an die Ukraine sowie die Ausbildung ukrainischer Soldaten übernimmt – bislang hatten die USA die Regie geführt, der Wechsel gilt auch als Vorsichtsmaßnahme für den Fall, dass ein wiedergewählter US-Präsident Donald Trump die amerikanische Unterstützung streicht. In Polen wollen die Nato und die Ukraine ein neues gemeinsames Analyse- und Ausbildungszentrum aufbauen. Zweitens wird der Gipfel für ein Jahr Militärhilfen im Umfang von 40 Milliarden Euro versprechen. Stoltenberg wollte eigentlich eine viel höhere Zusage über fünf Jahre, dagegen gab es aber Bedenken.

Flugabwehrsystem
Ein Startgerät des Flugabwehrraketensystems Patriot der Bundeswehr. Unter dem Eindruck des russischen Raketenangriffs auf ein Kinderkrankenhaus in Kiew wollen die Nato-Staaten auch die Hilfe für die ukrainische Luftabwehr ausbauen, auch mit Patriot-Systemen. © DPA Images | Karl-Josef Hildenbrand

Als dritter Punkt werden neue Waffenzusagen einzelner Staaten erwartet, vor allem für weitere Luftabwehrsysteme, etwa vom Typ Patriot. Biden hat dazu nach dem russischen Raketenangriff auf ein Kinderkrankenhaus in Kiew schon „neue Maßnahmen“ angekündigt. Schließlich sollen am Rande neue bilaterale Sicherheitsabkommen mit der Ukraine unterzeichnet werden; Deutschland, die USA und 17 andere Staaten haben solche Abkommen schon abgeschlossen. Direkt nach dem Gipfel wollen sie mit Selenskyj zusammenkommen, um sich abzustimmen.

Welche Rolle spielt China beim Gipfel?

Zum dritten Mal sind die Staats- und Regierungschefs von Australien, Japan, Neuseeland und Südkorea zum Gipfel eingeladen – für Stoltenberg ein Beleg für die wachsenden Bindungen und gemeinsamen Interessen. Die Nato bleibe ein Bündnis zwischen Europa und Nordamerika, stellt Stoltenberg klar. Aber: Russland könne den Ukraine-Krieg nicht ohne seine „autoritären Freunde in Asien“ durchhalten. „Der Krieg zeigt, wie eng Russland und China sowie Nordkorea und Iran miteinander verbunden sind“, sagt Stoltenberg. Auch deshalb arbeitet die Nato nun verstärkt mit Partnern in Fernost zusammen. Die Kritik richtet sich vor allem an China: Die Volksrepublik investiere so massiv in ihre Atomrüstung, dass die Nato und die USA im nächsten Jahrzehnt erstmals gleich zwei potenziellen Gegnern gegenüberstehen würden, warnt Stoltenberg.

Was plant Kanzler Scholz beim Nato-Gipfel?

Scholz reist nicht allein nach Washington: Er wird von seiner Ehefrau Britta Ernst begleitet – sowie von Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) und Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne).  Der Kanzler ist zufrieden, weil die Bundesregierung trotz Haushaltsstreit das Zwei-Prozent-Ziel bei den Verteidigungsausgaben einhält; doch bleibt seinen Kollegen in Washington nicht verborgen, dass Pistorius weniger bekommt, als er für nötig hält. Am Rande des Gipfels wird Scholz am Mittwoch unter anderem Selenskyj, den neuen britischen Premier Keir Starmer, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan zu bilateralen Gesprächen treffen.