Essen. Wohnviertel werden abgesperrt, Geschäfte schließen, Anwohner flüchten aus der Stadt. Essen bereitet sich auf den Ausnahmezustand vor.
Sechs Monate haben sich Polizei und Essener Stadtverwaltung auf dieses Wochenende vorbereitet, nun ist es soweit: Der Bundesparteitag der AfD am 29. und 30. Juni steht unmittelbar bevor und als Folge erlebt die Ruhrstadt den mit Abstand größten Polizeieinsatz in ihrer jüngeren Geschichte.
Früh war klar: Dieser erste Bundesparteitag seit dem berühmt-berüchtigen Potsdamer Treffen würde eine Protest-Intensität hervorrufen, die deutlich übertrifft, was bei AfD-Treffen ohnehin üblich ist. Die Konsequenzen sind dramatisch: Große Teile der Stadt rund um den Tagungsort Grugahalle gehen von Donnerstagabend bis Sonntagabend in den behördlich angeordneten Ausnahmezustand. Wichtige Ausfall- und Geschäftsstraßen sowie ganze Wohnquartiere werden abgesperrt, Busse und Bahnen stoppen, Freizeitstätten dürfen nicht öffnen, Briefkästen bleiben ungeleert, und selbst wer als Sparkassenkunde Bares braucht, hat schlechte Karten: Alle Geldautomaten im Umkreis sind deaktiviert.
Polizei warnt: „Werden Straftaten konsequent im Keim ersticken“
Die Maßnahmen sind für Tausende Anwohner höchst unbequem, aber ganz offensichtlich alternativlos. Denn nach letzten Erkenntnissen der Polizei werden sich unter die erwarteten zehntausenden friedlichen Demonstranten auch potenzielle Gewalttäter mischen, die auf den einschlägigen Internet-Plattformen wie „Indymedia“ seit Monaten mobil machen. Essens Polizeidirektor Detlef Köbbel, der den Gesamteinsatz leiten wird, erwartet „gewaltaffine Menschen im dreistelligen Bereich“, denen er vor Medienvertretern schon mal eine Ansage machte: „Wir werden sehr konsequent Straftaten im Keim ersticken“.
Auch eine dritte Gruppe bereitet der Polizei einige Sorgen: jene, die nicht aktive Gewalt ankündigten, jedoch durch Sitzblockaden aller Art das erklärte Ziel verfolgen, den Parteitag mindestens zu stören, nach Möglichkeit sogar zu verhindern. Das Label lautet „ziviler Ungehorsam“. Es ist Ermessenssache und soll laut Einsatzleiter Köbbel situativ entschieden werden, ob und wann die Polizei den Fahrweg zur Grugahalle räumen muss. Polizeipräsident Andreas Stüve ließ jedenfalls keinen Zweifel, dass man die Rechte aller Beteiligten durchsetzen werde: auch die der AfD, einen Parteitag abzuhalten und die der Delegierten, in die Halle zu gelangen.
Der Stadtraum um die Grugahalle könnte aus polizeilicher Sicht ungünstiger nicht sein
Dieses Szenario findet in einem Stadtraum statt, der aus polizeilicher Sicht ungünstiger kaum sein könnte. Anders als viele deutsche Großmessen, befindet sich die Messe Essen mit der Grugahalle mitten in der Stadt, im belebten Stadtteil Rüttenscheid. Die Halle ist von drei Seiten von Wohnquartieren umgeben, getrennt im wesentlichen nur durch breite Straßen und kleine Parkplätze. Auch Ecken mit viel Grün und Buschwerk sind vorhanden. Die Sorge ist groß, dass sich Gewalttäter das relativ unübersichtliche Terrain zunutze machen oder gar in den Wohnstraßen die Schlacht mit der Polizei suchen.
„Seit den G20-Krawallen in Hamburg weiß man, was hier bei uns drohen könnte“ ist ein Satz, den man so oder ähnlich in den letzten Tagen oft hört in Essen-Rüttenscheid. Im Juli 2017 zogen Antifa-Extremisten durch Hamburger Wohnquartiere eine Schneise der Verwüstung, zerstörten im großen Stil Autos und Geschäfte und beschädigten Wohnhäuser. Die Polizei schien zunächst machtlos. Befürchtet wird, dass sich derlei wiederholt, auch wenn die Polizei betont, sie sei gerüstet.
Viele Anwohner fuhren schon ihre Autos weg - oder wollen gleich ganz verreisen
Zahlreiche Rüttenscheider haben ihre Autos bereits in entfernteren Quartieren geparkt oder wollen übers Wochenende gleich ganz verreisen. Andere wiederum sind entschlossen, an den Protesten vor der Haustür teilzunehmen. Viele Ladeninhaber und ansässige Dienstleister kündigten an zu schließen, nicht nur aus Angst vor Krawallen, sondern weil ihre Kunden entweder nicht durchkommen oder den Versuch lieber gleich lassen.
Die Verdienstausfälle sind nicht unbeträchtlich, in die Angst mischt sich daher auch Wut. Denn das alles trifft einen Stadtteil, der sowohl gute Einkaufs- und Ausgeh-Möglichkeiten bietet als auch hohe Beliebtheit als Wohnquartier hat - und nebenbei bemerkt eine Hochburg der Grünen ist. Hingegen fuhr die AfD hier bei der Europawahl mit gerade mal gut fünf Prozent unter allen Essener Stadtteilen das schlechteste Ergebnis ein.
Anwohner-Unmut landet derzeit auch bei der Stadt Essen, die mit viel Tamtam versuchte, den Parteitag juristisch zu verhindern und damit offenbar bei den Bürgern einige Erwartungen weckte. Doch wie nicht anders zu erwarten, scheiterte der Versuch, den vor den Potsdamer Ereignissen geschlossenen Vertrag mit der AfD über die Hallennutzung zu kündigen bzw. mit neuen Auflagen zu versehen. Schon das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen als erste Instanz ließ keinen Zweifel aufkommen, dass der Gleichheitsgrundsatz unter den Parteien dafür keinerlei Spielraum lasse. Oberbürgermeister Thomas Kufen (CDU) blies die Gerichts-Attacke wieder ab und gab sich geschlagen, die AfD konnte triumphieren.
Angemeldet sind rund 20 Protestveranstaltungen, darunter sehr große
So ist es nun die Polizei, die Schaden von der Stadt abwenden muss. Rund 3000 Beamte sind in Essen im Dienst, was zusätzlich zur Fußball-EM eine erhebliche Belastung für die Behörde darstellt. Rund 20 Protestveranstaltungen vom langen „Rave-Zug“ bis zur kleinen Splitterpartei-Kundgebung sind angemeldet und müssen begleitet werden, bei der mutmaßlich größten nehmen Vertreter von Essener Parteien, Kirchen, Verbänden und nicht zuletzt der Oberbürgermeister selbst teil. Leiter dieser Veranstaltung auf dem größten Parkplatz in Messe-Nähe ist der städtische Ordnungsdezernent Christian Kromberg. Er kündigte an, ab 45.000 Teilnehmern die Reißleine ziehen zu müssen, weil er dann die Sicherheit nicht mehr gewährleisten könne.
Kromberg gab jüngst auch bekannt, dass allein die städtischen Sicherungsmaßnahmen rund um den AfD-Parteitag einen mittleren sechsstelligen Betrag erfordern werden. Beschweren solle man sich als steuerzahlender Bürger darüber aber bitte nicht, denn das seien nun mal „Demokratiekosten“.
AfD-Parteitag in Essen:
- AfD-Bundesparteitag 2024 in Essen: Der Newsblog
- Warum sind Sie hier? „Nach der Europawahl war ich geschockt“
- Parteitag und Demos: So haben es Rüttenscheider erlebt
- Alle Artikel, Fotos und Video zum AfD-Parteitag in Essen gibt es hier
Der Autor dieses Artikels ist Leiter der Lokalredaktion Essen der „WAZ“, die in diesen Tagen und am Wochenende intensiv über den AfD-Bundesparteitag in der Ruhrstadt berichten wird.