Hamburg. 959 Stimmen wurden 2007 aus einer Urne gestohlen – die Täter sind bis heute nicht gefunden. Was das Desaster für Olaf Scholz bedeutete.

Man kann die Hamburger SPD als eine Art Machtmaschine beschreiben: In 64 der 77 Jahre seit 1946 hat die Partei den Ersten Bürgermeister gestellt. Bisweilen richtete sie Macht und Energie allerdings auch gegen sich selbst: Die Hamburger Sozialdemokraten haben ihre eigenen Bürgermeister gestürzt, wenn sie ihnen nicht mehr passten. Der linke und der rechte Parteiflügel haben sich über Jahrzehnte so bekämpft, dass daraus lebenslange Feindschaften entstanden.

Aber ein Ereignis ragt aus der Chronik der Skandale und Skandälchen heraus: Am Abend des 25. Februar 2007 wäre die SPD beinahe ziemlich kläglich an der innerparteilichen Demokratie gescheitert, weil sich ein Abgrund an kriminellem Verhalten auftat. Die „Zeit“ diagnostizierte bei der SPD sogar schon „Todessehnsucht an der Elbe“.

Die SPD hatte bereits eine nervenaufreibende Auseinandersetzung hinter sich

Die Elb-SPD war damals in einer für sie ungewöhnlichen Rolle – in der Opposition. Schlimmer noch: Die CDU, die die Sozialdemokraten fast immer von der Macht fernhalten konnten, regierten den Stadtstaat mit absoluter Mehrheit, Ole von Beust war Erster Bürgermeister. Und: Anfang des Jahres hatte die SPD eine nervenaufreibende innerparteiliche Auseinandersetzung hinter sich, die bereits selbstzerstörerische Züge trug.

Fünf der sieben einflussreichen SPD-Kreisvorsitzenden, auch gern „Kreisfürsten“ genannt, hatten sich in einer Art Putsch gegen den Landesvorsitzenden Mathias Petersen gestellt: Die Fünf und ihre Unterstützer wollten verhindern, dass Petersen SPD-Bürgermeisterkandidat für die Wahl 2008 und damit Herausforderer des überaus beliebten Ole von Beust wurde. Der Arzt aus Altona hatte seine Genossinnen und Genossen mit mehreren Alleingängen provoziert. Unter anderem hatte er vorgeschlagen, Namen und Adressen von Sexualstraftätern im Internet zu veröffentlichen. Kurzum: Petersen galt den Frondeuren als nicht geeignet für das hohe Amt.

Der SPD-Landesvorstand beschloss, die Auszählung der Stimmen abzubrechen

Als sich der Parteichef weigerte, seine Ambitionen aufzugeben – nicht einmal ein Misstrauensvotum des Landesvorstandes mit 13 zu zehn Simmen konnte ihn umstimmen –, installierten seine Kritiker die stellvertretende SPD-Vorsitzende Dorothee Stapelfeldt als Gegenkandidatin. Es begann ein wochenlanger innerparteilicher Wahlkampf, an dessen Ende am 25. Februar eine Art Urwahl stand, zu der alle damals 11.500 Mitglieder aufgerufen waren. Die demokratische Basisentscheidung über die Spitzenkandidatur schien der letzte Ausweg aus dem erbitterten Machtkampf in völlig vergifteter Atmosphäre zu sein. Es kam komplett anders.

An jenem Sonntagabend im Februar 2007 war die SPD-Parteizentrale in St. Georg, das Kurt-Schumacher-Haus, gut besucht: Zahlreiche Journalistinnen und Journalisten, aber auch viele Parteimitglieder und nicht zuletzt der komplette Landesvorstand warteten voller Spannung auf das Ergebnis der Auszählung. Erst sollte die Entscheidung der Sozialdemokraten um 19.30 Uhr bekannt gegeben werden, dann um 20.30 Uhr. Doch nichts passierte, die Ungewissheit wuchs und erste Gerüchte machten die Runde, dass etwas nicht stimme.

Es dauerte Stunden, bis klar war: 959 der 1459 Briefwahlstimmen fehlten

Um 21.30 Uhr trat ein sichtbar konsternierter und um Fassung ringender Landesvorsitzender vor die Kameras und Mikrofone. „Wir haben die Wahl abgebrochen, weil Briefwahlstimmen fehlten und für uns nicht erklärbar war, warum“, sagte Petersen. Dann folgte ein Satz, der nicht nur die Hamburger Partei in ihren Grundfesten erschütterte, sondern auch die SPD bundesweit in Alarmstimmung versetzte: „Wir haben hier einen Vorgang, der – so, wie es aussieht – einen kriminellen Hintergrund hat.“

Bei manchen Parteimitgliedern brach sich tiefer Frust Bahn. „Rücktritt, Rücktritt“, riefen sie voller Empörung und meinten damit den gesamten Landesvorstand. Nüchtern betrachtet war Folgendes geschehen: Bei der Auszählung der knapp 5500 Voten fiel schnell auf, dass Briefwahlstimmen fehlten. Weil alle Briefwahlumschläge aufbewahrt worden waren, wussten die Zählerinnen und Zähler, dass exakt 1459 Parteifreunde auf diese Weise abgestimmt hatten. In der Briefwahlurne lagen aber nur 500 Stimmzettel, 959 fehlten.

Bis in die Nacht hinein tagte die Parteispitze – heillos zerstritten und handlungsunfähig

Dramatische Stunden begannen: Die Zählkommission unterbrach die Auszählung. Der Landesvorstand wurde einberufen und beschloss schließlich, die Wahl abzubrechen – ein beispielloser Vorgang. Wer konnte ein Interesse daran haben, die Entscheidung der Parteibasis zu sabotieren? Nur wenige Sozialdemokraten hatten Zugang zu dem Raum, in dem die zudem zusätzlich gesicherten Urnen verschlossen waren.

Doch bevor an eine Aufklärung des „kriminellen Hintergrundes“ zu denken war, ging es um die unmittelbaren Konsequenzen. Wie sollte es weitergehen? Schließlich brauchte die SPD trotz allem einen Spitzenkandidaten für die Bürgerschaftswahl. Weder Petersen noch Stapelfeldt waren zum Rücktritt bereit. Bis weit in die Nacht hinein tagte die Parteispitze – heillos zerstritten und handlungsunfähig. Vermutlich nie in ihrer Geschichte war die Partei hilfloser und ratloser als an jenem 25. Februar.

Um den Schaden zu begrenzen, rückte SPD-Generalsekretär Hubertus Heil aus Belin an

Dabei ging es um nicht weniger als die Reputation der SPD als demokratischer Partei – bundesweit. Gleich am nächsten Tag rückte deswegen der damalige SPD-Generalsekretär und heutige Bundesarbeitsminister Hubertus Heil aus Berlin an. Eine Demütigung für die einst so stolze Hamburger SPD. Heil war für einen klaren Schnitt: Annullierung der Wahl und Rücktritt des gesamten Landesvorstandes, also einen umfassenden personellen Neuanfang. Wieder zogen sich die Beratungen bis in den frühen Morgen hin. Der Generalsekretär suchte in Einzelgesprächen und in größerer Runde nach Lösungen, doch besonders Mathias Petersen beharrte auf seinem Anspruch, als Landesvorsitzender im Amt zu bleiben und Spitzenkandidat zu werden.

Welch ein Chaos in der Hamburger SPD in jenen Tagen ausgebrochen war, verdeutlicht diese kuriose, aber auch widersinnige Entscheidung: Obwohl die (offizielle) Auszählung wegen der fehlenden Stimmen abgebrochen worden war, zählte Hans-Peter Strenge, der damalige Vorsitzende der SPD-Schiedskommission, auf Drängen von Petersen und Stapelfeldt noch in der Sonntagnacht die restlichen Stimmen aus. Das Gesamtergebnis: 2780 Stimmen für Mathias Petersen, 1730 für Dorothee Stapelfeldt.

Eine inoffizielle Auszählung ergab, dass Mathias Petersen uneinholbar vorn lag

Mit anderen Worten: Petersen lag uneinholbar vorn. Die gestohlenen Stimmen – selbst wenn alle für seine Herausforderin gewesen wären – hätten nichts am Erfolg von Petersen geändert.

Diese inoffizielle Auszählung wurde zunächst nicht öffentlich kommuniziert, aber sie erklärt Petersens Beharren auf der Spitzenkandidatur. Zwei Tage und zwei Nachtsitzungen benötigte Heil, um die Hamburger Parteifreunde letztlich doch auf eine gemeinsame Linie zu bringen: Um 4.20 Uhr in der Nacht zum Mittwoch erklärten Petersen und Stapelfeldt ihren Rücktritt. Auch der komplette Landesvorstand warf hin. „Die Partei hat ihre Handlungsfähigkeit unter Beweis gestellt“, sagte ein erleichterter SPD-Generalsekretär Heil. Die achtstündige Marathonsitzung des Landesvorstands geht als längste in die Geschichte der Hamburger SPD ein.

Die Entscheidungen der Nacht sahen auch vor, auf eine erneute Urwahl des SPD-Spitzenkandidaten zu verzichten, was zunächst erwogen worden war. Politisch war der Fall damit klar: Mathias Petersen war durch den Stimmenklau um die Rolle als Herausforderer Ole von Beusts gebracht worden. Der Arzt aus Altona war das Opfer krimineller Machenschaften. Doch der Schaden blieb nicht allein auf Petersen begrenzt: Die tiefen innerparteilichen Gräben waren nicht zugeschüttet. Die persönlichen Unverträglichkeiten, ja Feindschaften zwischen einzelnen Akteuren bestanden fort. Die Hamburger SPD war noch immer eine Partei in Agonie.

Ein Sozialdemokrat lobte 20.000 Euro für Hinweise auf den oder die Täter aus

Da war zuallererst die offene Wunde des Stimmenklaus – eine kriminelle Tat, die man eher unter Politikern in anderen Breiten der Erde vermuten würde. Von dem Täter oder den Tätern fehlte jede Spur. Noch in der Nacht der unterbrochenen Auszählung rückte der Staatsschutz an. Soviel war schnell klar: Die Urne, aus der die Stimmzettel entwendet wurden, war nicht beschädigt. Der Schlüssel wurde in einem Tresor verwahrt. Der Kreis der Verdächtigen war daher überschaubar. Möglicherweise wurde die nur mit einem einfachen Vorhängeschloss gesicherte Urne auch ohne Schlüssel geöffnet und unversehrt wieder verschlossen.

Unter den Sozialdemokraten schossen die Gerüchte ins Kraut und verstärkten das Klima des Misstrauens. Beweisbar war nichts davon. Ein halbes Jahr nach dem Stimmenklau stellte die parteiinterne Untersuchungskommission ihre Ermittlungen ein, ohne den Fall aufgeklärt zu haben. Nicht einmal die 20.000 Euro Belohnung, die ein Sozialdemokrat ausgelobt hatte, führten auf eine heiße Spur zu den Tätern. Auch die Staatsanwaltschaft kam nicht weiter und hat die Akte „Stimmenklau SPD“ längst geschlossen.

Fast wäre Altbürgermeister Henning Voscherau als SPD-Spitzenkandidat angetreten

Es gelang der verunsicherten und zerstrittenen Sozialdemokratie halbwegs, die nächsten Monate zu überstehen. Das drängendste Problem war die Spitzenkandidatur für die Bürgerschaftswahl 2008. Viel hätte nicht gefehlt und Altbürgermeister Henning Voscherau (SPD) wäre in die Bresche gesprungen. Aber Voscherau befürchtete wohl zu Recht, dass er aufgrund alter Animositäten nicht die volle Unterstützung der SPD-Funktionäre haben würde und sagte ab.

Die Hamburger Sozialdemokraten konnten von Glück sagen, dass Ex-Kulturstaatsminister Michael Naumann (SPD) bereit war, als sehr respektabler Berliner Import auf Listenplatz eins zu kandidieren. Naumann fuhr am 24. Februar 2008 ein achtbares Ergebnis ein, hatte aber gegen den populären Ole von Beust keine Chance. Die SPD blieb im Rathaus in der Opposition.

Ex-Bundesarbeitsminister Olaf Scholz (SPD) suchte nach einer neuen Aufgabe

Als die Partei bei der Bundestagswahl am 27. September 2009 mit 27,4 Prozent das bis dahin schlechteste Ergebnis seit 1946 einfuhr und drei ihrer sechs Direktmandate verlor, herrschte Alarmstufe rot. „Wer jetzt bereit ist, Landesvorsitzender der daniederliegenden Hamburger SPD zu werden, muss über eine unendliche Leidensfähigkeit verfügen – zum Beispiel, weil er politisch seine letzte Chance sucht. Oder aber er ist von tiefem Pflichtgefühl für die Sozialdemokratie geprägt und sieht es als selbstverständlich an, seiner Partei in der Stunde der Not zu helfen“, schrieb das Abendblatt damals.

Da traf es sich gut, dass einer gerade „arbeitslos“ geworden war und nach einer neuen Aufgabe suchte: Olaf Scholz. Mit dem Sturz der SPD in die Opposition hatte der Altonaer Bundestagsabgeordnete seinen Posten als Bundesarbeitsminister verloren. Auch Scholz war klar, dass sich die SPD nach elf Jahren in der Bundesregierung nur über die Länder regenerieren konnte.

Scholz sagte als Parteichef den Heckenschützen in der Hamburger SPD den Kampf an

Wer dem Willy-Brandt-Haus in Berlin eine realistische Machtoption für die strauchelnde Elb-SPD liefern konnte, hatte ein kleines Kunststück fertiggebracht. „Er weiß natürlich, dass ein erfolgreicher Verlauf dieser beinahe unmöglichen Mission seinen Kurswert in Berlin erhöht. Diese Triebfeder sollte bei Scholz nicht unterschätzt werden. Der Ehrgeiz des Altonaers ist ausgeprägt“, schrieb das Abendblatt über Scholz nach seiner Wahl zum Landesvorsitzenden Anfang November 2009.

Und Scholz räumte auf. „Wer bei mir Führung bestellt, bekommt sie“, hatte Scholz in seiner Nominierungsrede den Parteifreunden zugerufen und den Heckenschützen in den eigenen Reihen damit den Kampf angesagt. Zentraler Baustein für die innerparteiliche Befriedung war es, Mathias Petersen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.

Ohne Stimmenklau wäre Scholz nicht Bürgermeister und kaum Bundeskanzler geworden

Scholz bat das Harburger SPD-Urgestein Harald Muras, einen Bericht über die politischen Hintergründe des Stimmenklaus und den Umgang der Partei mit Petersen anzufertigen. „Mathias Petersen ist übel mitgespielt worden“, sagte Scholz bei der Vorstellung des Muras-Berichts, der vor allem das Verhalten des SPD-Landesvorstands in den Jahren 2006/7 scharf attackierte.

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Der Rest ist Teil der jüngeren Geschichte des Stadtstaates: Nachdem das schwarz-grüne Regierungsbündnis im November 2010 geplatzt war, griff Scholz zu und wurde Bürgermeisterkandidat der SPD. Die Partei holte aus der Opposition heraus 2011 die absolute Mehrheit, der Altonaer wurde Erster Bürgermeister. Es hätte die Stunde der Genugtuung für das Opfer des Stimmenklaus werden können: Aber Petersen lehnte Scholz’ Angebot ab, Gesundheitssenator zu werden. Seine Gegenspielerin Dorothee Stapelfeldt wurde zuerst Wissenschafts- und dann Stadtentwicklungssenatorin und gehörte dem Senat elf Jahre lang an.

2018 löste Scholz bekanntlich die Fahrkarte nach Berlin und kehrte in die Bundespolitik zurück. Erst war er Bundesfinanzminister in der Großen Koalition unter Kanzlerin Angela Merkel (CDU), seit 2021 ist er der neunte Bundeskanzler. Ohne die kriminellen Machenschaften und den daraus folgenden Auflösungserscheinungen in seinem SPD-Heimatverband wäre Scholz nicht Landesvorsitzender und nicht Erster Bürgermeister geworden. Und es ist nicht falsch zu behaupten, dass Scholz ohne den Stimmenklau und die daraus resultierenden politischen Entwicklungen in Hamburg kaum Bundeskanzler geworden wäre. Widerlegbar ist diese These jedenfalls nicht...