Angst vor Führungskräften und weitere Sorgen: Ex-Landespastor analysiert internes Klima des NDR – mit teils erschreckenden Ergebnissen.

  • Ende 2022 wurden massive interne Vorwürfe im NDR publik
  • Die Rede war unter anderem von einem „Klima der Angst“
  • NDR-Intendant Knuth gab darauf eine interne Analyse in Auftrag
  • Das Gutachten wurde nun vorgestellt – mit erschreckenden Details

Hamburg/Kiel. Es gibt kein Klima der Angst, aber es gibt „etliche Menschen, die Angst haben“. Und zwar vor leitenden Führungskräften mit einem überholten Führungsstil. Das hat der ehemalige Landespastor Stephan Reimers im NDR festgestellt.

Der Theologe und Manager hatte im Auftrag von Intendant Joachim Knuth gemeinsam mit fünf Psychologen und Change-Experten die Unternehmenskultur im Sender untersucht. Jetzt liegt sein Bericht vor. Stephan Reimers spricht von teils „erschreckenden Ergebnissen“ und großem Veränderungsbedarf.

NDR – viele Mitarbeiter haben Angst vor den Führungskräften

Gleich auf fünf Seiten breiten die Gutachter entsprechende Vorschläge aus. Jetzt soll ein Kulturwandelprozess mit allen beteiligten Gruppen gestartet werden. Helfen könnte dabei ein professionelles „Changemanagement“, schlagen Reimers und Mitstreiter vor.

Im Herbst waren massive Vorwürfe – die Rede war von einem „Klima der Angst“, von fehlender redaktioneller Unabhängigkeit und unzulässiger Einflussnahme – immer dichter an die NDR-Spitze herangerückt. Warum reagierte der Intendant nicht früher auf die Vorwürfe? Wie schlecht ist die Stimmung im NDR wirklich? Gibt es dieses Klima der Angst? Welche Konsequenzen sind dringend nötig?

Knuth reagierte. Es brauche eine „Bestandsaufnahme für den gesamten NDR“, sagte der Intendant, als er seine Idee der Überprüfung durch Stephan Reimers, der in den 1990er-Jahren dem NDR-Rundfunkrat angehörte, vorstellte. Als Ziel der „Klima-Analyse“ gab Knuth aus, Missstände in Redaktionen und Verwaltung offenzulegen, um dann eine „neue Kultur des Vertrauens und des redaktionellen Miteinanders“ in Hamburg und Kiel schaffen zu können.

Die Analyse hält dem NDR einen Spiegel vor. So sagt es Knuth. „Es gibt Ansichten, die nicht schön sind. Aber darum geht es: zu erkennen, welche blockierenden Muster es gibt, diese zu verstehen und dann zu verändern.”

Der NDR in Hamburg.
Der NDR in Hamburg. © picture alliance/dpa | Georg Wendt

1055 Mitarbeiter des NDR wurden befragt

Reimers und seine Mitstreiter haben 1055 Menschen beim NDR befragt – vom freien Mitarbeiter bis in die Spitze des Senders. Mit negativen Konsequenzen musste niemand rechnen: Jeder, der sich äußerte, wusste, dass er oder sie mit den Aussagen anonym bleibt.

„Ich habe sehr viel Kritik gehört“, sagte Reimers über die rund 200 Gespräche, die er allein geführt hat. Der „Erfinder“ des Straßenmagazins „Hinz & Kunzt“ lobt die große Offenheit der NDR-Mitarbeiter, die habe seine Arbeit sehr erleichtert.

Auf 99 Seiten breiten die Prüfer ihr Ergebnis aus. Die Rede ist dort von Menschen, die Angst vor Chefs haben – vor Vorgesetzten mit einem überholten Führungsstil. Das müsse überwunden werden, analysiert Reimers.

Auf fünf Seiten haben die Autoren der Studie Handlungsempfehlungen entwickelt. Eine sieht vor, dass sich alle Vorgesetzten künftig alle zwei Jahre von ihren Mitarbeitern bewerten lassen sollten. „Allein die Ankündigung des Verfahrens wird positive Veränderungen auslösen“, ist Reimers überzeugt.

Gutachter identifizieren gefährliches Muster beim NDR

Die Gutachter haben ein „Muster“ entdeckt, das den Problemen zugrunde liege: Die meisten Vorgesetzten seien qualifizierte Journalisten, die sich in Führungspositionen hineingearbeitet hätten. Zu deren Tugenden zählten Neugier und kritische Zuspitzung, aber sie strahlten nicht per se Wertschätzung aus. „Um das Klima zu verbessern, erscheint eine grundlegende Veränderung der Besetzungspraxis von Führungskräften unerlässlich“, heißt es deshalb im Bericht.

Das Kommunikationsunternehmen NDR tue sich schwer damit, die eigene Profession nach innen anzuwenden und eine lebendige Kommunikation und Feedback-Kultur zu etablieren, so Reimers. Das gegenseitige Misstrauen sei groß, heißt es.

Der NDR hatte den Theologen und früheren Diakoniechef Stephan Reimers (hier steht er in der Rathauspassage) mit dem Gutachten beauftragt.
Der NDR hatte den Theologen und früheren Diakoniechef Stephan Reimers (hier steht er in der Rathauspassage) mit dem Gutachten beauftragt. © HA | Marcelo Hernandez

Die Ängste der NDR-Beschäftigten sind vielfältig. So sorgen sich freie Mitarbeiter – insgesamt beschäftigt der NDR 1256 von ihnen – um ihre Weiterbeschäftigung. Auf zehn Seiten widmet sich das Gutachten diesem Thema in einem eigenen Kapitel.

Die duale Struktur der Beschäftigungsverhältnisse von Festangestellten und freien Mitarbeitern führe bei vielen zu Unmut und werde häufig als „Zweiklassengesellschaft“ bezeichnet, heißt es dort. In einem anderen Kapitel geht es um die Transformationsstrategie und Crossmedialität des Senders. Also um das Zusammenspiel von Fernsehen, Radio und Internet.

Veränderte Arbeitsabläufe überfordern Mitarbeiter

Die Integration erfordert völlig neue Arbeitsabläufe – und verunsichere Mitarbeitende. Zumindest diejenigen, die sich nicht mitgenommen fühlten. Viele Mitarbeiter seien unzufrieden mit der Umsetzung dieser Veränderungen, meint Reimers, und viele Vorgesetzte überfordert mit „der Wucht dieser Veränderungen“. Zwölf Erkenntnisse hat Reimers in einem Vorwort zusammengefasst. Danach ist im NDR die Leidenschaft für den Beruf weiterhin groß. Es gebe einen „hohen Anspruch an Professionalität“.

Die Mitarbeiter wollten, dass der Sender erfolgreich ist. In der Untersuchung steht aber auch, dass der NDR ein behördlich organisiertes Unternehmen sei, das sich im Lauf der Jahre eine „immense Komplexität mit starren Strukturen, bürokratischen Prozessen und vielen Regeln“ zugelegt habe, an denen Mitarbeitende verzweifelten.

Viele Beschäftigte hätten kein Vertrauen in die Geschäftsleitung, sie vermissten Orientierung und klare Entscheidungen. Laut Gutachten seien kollegiale Beziehungen stellenweise deutlich von gegenseitigem Misstrauen und Konflikten geprägt.

Der Untersuchung vorausgegangen waren an beiden Standorten Vorwürfe gegen Führungskräfte. Die Rede war von einem Klima der Angst, von fehlender redaktioneller Unabhängigkeit, von zu großer Nähe zu Politikern. In Hamburg wie in Kiel kamen vom Sommer an immer neue Vorwürfe hoch, neue Verdachtsmomente, interne Beschwerden.

Mangelnde Kommunikation und fehlendes Vertrauen

Die Rede war von „politischen Filtern“ und „unzulässiger Einflussnahme“. Und damit richteten sie sich gegen die DNA des öffentlichen Senders. Der NDR beauftragte zunächst neben der Prüfungsgesellschaft Deloitte zwei Journalisten mit der Aufklärung der internen Vorwürfe aus dem Landesfunkhaus Kiel.

Diese konnten „keine Belege für einen politischen Filter“ finden, es habe keine journalistisch unbegründeten Eingriffe durch die Redaktionsleitung gegeben, es seien keine journalistischen Prinzipien verletzt worden, hieß es in ihrem Abschlussbericht. Allerdings machten die Prüfer „als wesentliches Problem in Teilen des Landesfunkhauses ein Redaktionsklima aus, das in Teilen von mangelnder Kommunikation und fehlendem Vertrauen geprägt“ sei.

Gleichzeitig musste sich der NDR mit Vorwürfen gegen die Hamburger Funkhauschefin Sabine Rossbach auseinandersetzen. Hier ging es um angebliche Begünstigung ihrer Tochter und deren PR-Agentur und auch hier wie in Kiel um den Führungsstil der Vorgesetzten.

Für die Mauschelei-Vorwürfe fand die Antikorruptionsbeauftragte des Senders keine Belege. Sabine Rossbach zog dennoch Konsequenzen: „Der unabhängige Bericht entlastet mich … Aber in den letzten Wochen ist viel gegenseitiges Vertrauen verloren gegangen – und deswegen möchte ich den Weg frei machen für eine Neuaufstellung im Landesfunkhaus Hamburg“, teilte sie im Herbst mit.

Allen voran hatte der Verlag Axel Springer die Vorwürfe gegen den öffentlichen rechtlichen Sender ausgebreitet und immer wieder nachgelegt.