Hamburg. Andy Grote und Polizistin Derya Yildirim im Abendblatt-Doppelinterview über Alltagsrassismus und Werbung um Migranten.

Der eine sieht sich als Innensenator immer wieder Vorwürfen eines „strukturellen Rassismus“ bei der Polizei ausgesetzt, die andere wird im Einsatz als „Nazi“ oder auch als „Verräterin“ beschimpft. Die Polizistin Derya Yildirim und ihr Dienstherr Andy Grote im Austausch auf Augenhöhe.

Hamburger Abendblatt: Nach einer Er­hebung aus dem vergangenen Jahr stimmen 28 Prozent der befragten Deutschen folgender Aussage zu: „Ausländer kommen nur hierher, um den Sozialstaat auszunutzen.“ Beinahe ein Drittel äußert sich also rassistisch. Bereitet Ihnen das Sorge?

Andy Grote: Ja. Rassismus und Diskriminierung sind eine der größten Gefahren überhaupt für unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt und unser friedliches Zusammenleben. Deshalb ist es gut, dass wir sensibler geworden sind und uns stärker in allen Gesellschaftsbereichen mit dem Thema auseinandersetzen. Gerade in einer Millionenmetropole sind Menschen anderer Hautfarbe oder Herkunft selbstverständlicher Teil unserer Gesellschaft. Aber sie werden nicht immer so behandelt. Auch in Hamburg machen Menschen, denen man ihre ausländischen Wurzeln ansieht, täglich Diskriminierungserfahrungen. Das treibt mich um, und hier sind wir alle gefordert.

Frau Yildirim, wie erleben Sie Rassismus im Alltag?

Derya Yildirim: Mein Vater hat mich großgezogen mit der Überzeugung, dass wir Hamburger und Teil dieser Gesellschaft sind. Ich habe in meiner Jugend keinen Rassismus erlebt. Später schon. Meine erste Erfahrung musste ich machen, als ich einen jungen Mann kontrollieren wollte. Der sagte nur: ,Einem Kanaken zeige ich meinen Ausweis nicht.‘ Ich habe später im Einsatz als Beamtin in Uniform unzählige Male Beschimpfungen gehört, die ich hier so nicht wiederholen will. ,Du scheiß Nazi‘ war noch eine der harmloseren.

Die in Hamburg geborene Kommissarin­ Derya Yildirim (40) arbeitet inzwischen am Institut für transkulturelle Kompetenz­ der Polizei.
Die in Hamburg geborene Kommissarin­ Derya Yildirim (40) arbeitet inzwischen am Institut für transkulturelle Kompetenz­ der Polizei. © Unbekannt | Marcelo Hernandez

Was geht in Ihnen vor, wenn Sie als „Verräterin“, „Rassistin“ oder „Nazi“ beschimpft werden?

Yildirim: Meine Motivation war ja immer: Ich will Hamburg sicherer machen und für die Menschen in meiner Stadt da sein. Diesen verantwortungsvollen Beruf als Polizistin übe ich daher auch mit Stolz aus. Wenn man selbst oder Kolleginnen und Kollegen dann als Rassisten beleidigt werden, macht mich das ehrlich gesagt traurig. Aber man lernt mit den Jahren, mit Beleidigungen umzugehen, sie an sich abprallen zu lassen.

Haben Sie eine Veränderung im Lauf der Jahre bemerkt?

Yildirim: In den vergangenen Jahren hat sich ein Wandel vollzogen. Anders als früher werde ich inzwischen auch im Alltag mit Rassismus konfrontiert, zum Beispiel beim Einkauf im Supermarkt. Das war und ist für mich sehr erschreckend.

Bei der Hamburger Polizei arbeiten fast 11.000 Frauen und Männer. Lassen sich die Ergebnisse der Umfrage, wonach knapp ein Drittel rassistisch antwortet, 1:1 auf den Polizeiapparat übertragen?

Grote: Nein. Aber es gibt Diskriminierung und Rassismus in unserer Gesellschaft, und das gilt dann auch für die Polizei als Teil dieser Gesellschaft. Es kommt hinzu, dass Polizistinnen und Polizisten im Dienst erleben, dass ihnen in bestimmten Kriminalitätsbereichen manche Nationalitäten häufiger begegnen als andere. Sich von solchen Erfahrungen jedes Mal wieder freizumachen, ist nicht immer einfach. Anspruch und Aufgabe ist aber, dass frustrierende Erfahrungen polizeiliches Handeln nicht negativ beeinflussen. Auf der anderen Seite ist der häufig verbreitete Vorwurf, dass unsere Polizei institutionell, strukturell oder latent rassistisch sei, eine ganz üble Diffamierung und ein Schlag ins Gesicht von 11.000 Polizistinnen und Polizisten, die jeden Tag alles geben, damit wir frei und sicher leben können.

Frau Yildirim, Sie haben als Zivilfahnderin im Rauschgiftdezernat der Hamburger Polizei gearbeitet. Konnten Sie sich immer wieder aufs Neue von Erfahrungen dieser Art freimachen?

Yildirim: Ich bin in einem Viertel aufgewachsen, in dem ich schon früh Drogenkriminalität erlebt habe. Das hat mir geholfen, keinen Kulturschock in diesem Einsatzbereich zu bekommen und mit Erfahrungen umzugehen. Auch der Austausch mit erfahrenen Kollegen oder Vorgesetzten hat mir in belastenden Situationen geholfen, das Erlebte mit professioneller Distanz zu betrachten.

Wird die Debatte um einen strukturellen Rassismus bei der Polizei gezielt von Extremisten wie der Interventionistischen Linken geschürt, um die Polizei in einem linksliberalen Spektrum zu verunglimpfen?

Grote: Natürlich werden diese Vorwürfe gezielt genutzt und manipulativ verbreitet von polizeikritischen und -feindlichen Kreisen, um das Bild einer autoritären, repressiven und rassistischen Polizei zu verbreiten, klar.

Was unternimmt die Polizei dagegen?

Grote: Wir können nur unser Selbstverständnis leben, das wir haben. Hamburg hat eine moderne Polizei, die die Diversität einer Großstadt in sich trägt. Wir tun viel dafür, dass in einer Zeit, in der rechte und rechtsextremistische Einflüsse stärker werden, der Laden sauber bleibt.

Die Debatten im Netz werden hochemotional geführt, Vorurteile verfestigen sich, das Misstrauen gegenüber der Polizei steigt. Was können Sie der zum Teil sehr aggressiven Rhetorik entgegensetzen?

Grote: Mit einer sehr zugespitzten, aggressiven und unversöhnlichen Debatte ist ganz schwer umzugehen. Es ist erst mal sehr leicht, im Netz Vorwürfe gegenüber der Polizei zu verbreiten. Jeder packt noch sein Stück Empörung obendrauf, und so gehen Vorwürfe hunderttausendfach durchs Netz ohne Chance auf Richtigstellung. Wenn ein Vorgang dann gründlich aufgeklärt werden konnte, findet das nicht annähernd die Verbreitung. Das Bild einer vermeintlich „rassistischen Polizei“ wird dann nicht mehr korrigiert. Wir versuchen, die Debatten­ zu beruhigen und zu entemotionalisieren, auch, indem wir mit den migrantischen Communitys den Dialog suchen und Vertrauen aufbauen.

Frau Yildirim, was können Sie als Polizistin mit türkischem Hintergrund leisten, um diese Debatten zu „entemotionalisieren“?

Yildirim: Im Auftrag des Polizei-Instituts für transkulturelle Kompetenz betreibe ich intensive Netzwerkarbeit. Dabei geht es darum, dass wir mit migrantischen Communitys und jedem Gemeindemitglied auf Augenhöhe kommunizieren, auch wenn Sichtweisen und Meinungen mitunter sehr unterschiedlich sind. Viele bringen negative Erfahrungen mit der Polizei aus ihren Herkunfts­ländern mit. Wir organisieren dann zum Beispiel runde Tische, um einerseits der Gemeinde eine Stimme zu geben, zuzuhören und Kritik anzunehmen, und andererseits auch zu vermitteln, warum die Polizei hier in Deutschland anders ist und warum sie in gewissen Situationen so reagieren musste, wie sie es getan hat. Im Kontakt spielt meine Sprache keine Rolle, wohl aber meine Zugehörigkeit.

Grote: Der große Wert der Arbeit von Frau Yildirim ist, dass man ihr abnimmt, dass sie beide Perspektiven einnehmen kann. Wir stehen uns ansonsten oft so polarisiert gegenüber, dass wir die Fähigkeit verlieren, uns in die Perspektive des jeweils anderen zu versetzen.

In der Belegschaft der Hamburger Polizei sind 79 Nationalitäten vertreten. 2020 wurden fast 500 Bewerber eingestellt, darunter rund 17 Prozent Menschen mit ausländischen Wurzeln. Reicht das aus, oder muss die Polizei – um die Gesellschaft widerzuspiegeln – gezielt noch mehr Menschen mit Migrationshintergrund anwerben?

Grote: Mit jeder neuen Klasse, die aus der Akademie an die Dienststellen kommt, wird die Polizei diverser, weiblicher, jünger. Durch die hohen Einstellungszahlen verändert sie sich fortlaufend. Wir würden gern den Migrantenanteil noch weiter erhöhen. Ich auch ganz persönlich. Dafür werben wir sehr aktiv.

Yildirim: Wir haben in den vergangenen zehn Jahren ganz große Fortschritte gemacht, Hamburg ist im Bundesvergleich Vorreiter. Was auch ganz wichtig ist: Auch in Führungs- und Leitungspositionen arbeiten inzwischen deutlich mehr Kolleginnen und Kollegen mit Migrationshintergrund.

Grote: Migranten, die man damals gezielt eingestellt hat, wachsen jetzt durch in die Führungspositionen. Das wird noch einmal das Bild von Polizei verändern.

Yildirim: Das macht mich unheimlich stolz. Und ich hoffe, dass es in fünf oder zehn Jahren noch viel mehr sein werden.

Kommen wir zurück zu den Vorwürfen eines „strukturellen Rassismus“. Als ein Beleg dafür werden oft Drogenkontrollen am Hafenrand angeführt, die sich vorrangig gegen Schwarze richten …

Der Jurist Andy Grote (52, SPD) ist seit fünf Jahren Innen- und Sportsenator Hamburgs.
Der Jurist Andy Grote (52, SPD) ist seit fünf Jahren Innen- und Sportsenator Hamburgs. © Unbekannt | Marcelo Hernandez

Grote: Jeden gleich zu behandeln heißt auch, Straftäter zu verfolgen – unabhängig davon, welche Hautfarbe und Herkunft sie haben. Wenn wir feststellen, dass in bestimmten Kriminalitätsbereichen bestimmte Nationalitäten dominieren, hat das natürlich Auswirkungen auf polizeiliches Handeln. Sie werden an der Balduintreppe nicht viele norwegische Dealer finden. Gleichwohl ist die Anforderung und meine klare Erwartung an die Polizisten, dass, auch wenn sie 99-mal Kontakt zu schwarzen Dealern hatten, sie auch dem 100. Schwarzen vorbehaltlos gegenübertreten.

Ich zitiere Sie jetzt, Herr Grote: „Nur wer sich mit den Risiken offen und unvoreingenommen auseinandersetzt, kann Präventionsstrategien entwickeln, um die demokratische Widerstandsfähigkeit der Polizei gegen radikale Haltungen zu stärken.“

Grote: Genau darum geht es uns. Wir müssen uns mit diesen sehr belastenden Einsatzsituationen und Frustrations­erfahrungen beschäftigen. Wir als Gesellschaft schicken die Polizei in die Einsätze und erwarten, dass dort Recht durchgesetzt wird. Daraus resultiert die Aufgabe, die Polizisten zu unterstützen, mit diesen Erfahrungen umzugehen.

Und deshalb hat die Polizei eine groß angelegte Studie unter 3000 Polizisten, Mitarbeitern und Führungskräften gestartet, um zu erforschen, welche Risikofaktoren die Entstehung von Vorurteilen und radikalen Einstellungen bei Polizisten begünstigen?

Grote: Wir wollen Belastungs- und Risikokonstellationen besser erkennen und Gegenstrategien entwickeln.

Mit einem neuen Persönlichkeitstest will die Polizei herausfinden, ob Bewerber anfällig sind für radikale Strömungen. Seit September 2020 ist der Verfassungsschutz gesetzlich verpflichtet, Polizeianwärter vor der Einstellung zu überprüfen …

Grote: Hinzukommt die Beschwerdestelle – das ist ein interner Qualitäts­sicherungsmechanismus. Wir wollen alles tun, damit die Polizei den hohen Erwartungen, die die Gesellschaft zu Recht an sie stellt, auch gerecht werden kann. Bei denjenigen, die die weitreichendsten Kompetenzen haben und sogar Gewalt anwenden dürfen, will man auch besonders sicher sein, dass sie alle gleich behandeln.

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Diese Beschwerdestelle, die gegen Widerstände in Teilen der Polizei eingerichtet wurde, soll nicht nur die Hemmschwelle der Bürger für Beschwerden senken. Der Polizeipräsident­ hofft auch auf „Whistle­blower“, um Hinweise auf Fehlentwicklungen zu bekommen. Whistleblower, Persönlichkeitstest, Befragungen – ist das nicht ein Ausdruck von Misstrauen der Polizei gegenüber?

Grote: Die Qualität der eigenen Arbeit zu überprüfen und sich selbstkritisch zu hinterfragen ist Teil einer modernen Organisationskultur. Die Polizei ist jeden Tag hundertfach in so schwierigen Einsatzsituationen unterwegs, das kann nicht komplett fehlerfrei ablaufen. Wir wollen unsere Fehler als Erste erkennen und korrigieren. Die Beschwerdestelle dient auch dazu, in Vorwurfslagen schneller sprachfähig zu werden, aktiv mit Vorwürfen umzugehen, um sie dann auf einer sehr stabilen Grundlage auch zurückweisen zu können.

Ein Einsatz, der medial nur schiefgehen konnte, ereignete sich vor einigen Monaten in der Nähe des Großneumarktes: Acht Polizisten­ gehen gegen einen Teenager mit Migrationshintergrund vor. Dass der Junge ein Amateurboxer ist und der Polizei wegen Gewalttaten und Diebstahls bekannt, ist auf dem Film, der zum Hit im Internet wurde, genauso wenig zu sehen gewesen wie die gescheiterten Versuche eines Beamten, vernünftig mit ihm zu reden. Stattdessen ist zu sehen: acht Polizisten gegen einen Jungen. Nicht nur in der türkischen Community war die Empörung groß …

Yildirim: Der Fall hat sich wie ein Lauffeuer herumgesprochen. Wir haben dann Vertreterinnen und Vertreter der türkischen Gemeinden zu einem runden Tisch eingeladen und die Hintergründe des Einsatzgeschehens erörtert. Wir haben viel erreichen können, denn viele Teilnehmer haben sich hinterher in ihrer Community – und auch in den sozialen Medien – vor die Polizei gestellt, als sie die Hintergründe kannten. Wir haben nicht alle überzeugen können, aber ein Großteil hat Verständnis für die Polizei und das polizeiliche Handeln gezeigt. Der Kontakt zu den Netzwerken bricht jetzt nicht ab, wir halten ihn aufrecht, um das Vertrauensverhältnis zu stärken.

Viele – auch hier geborene und in zweiter oder dritter Generation lebende – Migranten fühlen sich heimatlos, nicht dazugehörend, zerrissen. Was läuft falsch in der Integration?

Yildirim: „Integration ist keine Einbahnstraße“, sage ich immer. Die Bemühungen dürfen niemals einseitig sein. Forderungen mit einer Selbstverständlichkeit zu stellen, ohne jegliche Kompromissbereitschaft, ist der falsche Weg. Viele Migranten­, mit denen ich im Dialog bin, sprechen offen über ihre Ängste und ihre Beweggründe, warum sie sich oder ihren Kindern Grenzen im Integrationsprozess setzen. Assimilation und damit die Angst, die eigene Sprache oder Kultur zu verlieren, ist mitunter ein großes Thema.

Grote: Wir brauchen ganz andere Anstrengungen, nicht nur von der Polizei, sondern von allen Seiten. In den Gesprächen mit migrantischen Communitys sprechen wir über Fragen und Probleme, die den Kontakt mit der Polizei betreffen. Was wir aber sehr viel öfter hören, sind Beschwerden über Alltagsrassismus – in der Schule, auf dem Arbeitsmarkt, bei der Wohnungssuche. Als Gesellschaft müssen wir uns eingestehen, dass es Alltagsrassismus bei uns gibt. In der Generation der unter 18-Jährigen sind in Hamburg die Jugendlichen mit Migrationshintergrund in der Mehrheit. Wenn wir es nicht schaffen, sie für unsere Gesellschaft zu gewinnen bzw. zu einer Gesellschaft zusammenzuwachsen, dann werden wir in dieser Stadt nicht gut zusammenleben können.