Hamburg. Der Organisationsweltmeister versagt – Deutschland impft derzeit nur drittklassig. Mittelmaß darf nicht das neue Gardemaß werden.
Beginnen wir mit einem Witz in diesen traurigen Tagen: „Nach fünf Stunden vergeblichen Wartens vor dem Impfzentrum sagt ein älterer Mitbürger: „Jetzt habe ich aber die Faxen dicke, morgen fahre ich zum Kanzleramt nach Berlin, um denen den Marsch zu blasen.“ Daraufhin ein älterer Herr hinter ihm: „Das würde ich nicht tun – dort ist die Schlange noch länger ...“ Derbe Zeiten erzählen derbe Witze. Schließlich wusste schon der Dichter und Kabarettist Joachim Ringelnatz, den es in seinem Leben immer wieder in die Hansestadt verschlug: „Humor ist der Knopf, der verhindert, dass uns der Kragen platzt!“
Derzeit benötigen wir viel Humor: Während in Israel das normale Leben wieder beginnt und die letzten Intensivstationen für Covid-19-Patienten schließen, ist die Bundesrepublik auf dem Weg in den dritten Lockdown – oder gilt das Drosseln des Lebens nur als Verlängerung des zweiten Lockdowns? Mit Engelsgeduld fügt sich die Mehrheit in ein Schicksal, dass kein Schicksal ist – sondern Folge einer fehlerhaften Politik.
Nun sind Journalisten bekannt dafür, dass sie jedes Haar in der Suppe suchen, es wortreich beklagen, analysieren und vergrößern. Jetzt aber stellt sich die Frage, ob nicht ein ganzer Zopf im Suppentopf gelandet ist. Natürlich ist eine Pandemie nicht zu planen, selbstverständlich geben viele ihr Bestes und selbstredend lassen sich in der Not Fehler kaum vermeiden. Manche Kritik ist wohlfeil und unfair.
Corona-Impfungen in Deutschland: Frustrierende Bilanz
Zugleich aber müssen wir nüchtern vergleichen, ob es andere besser machen. Da fällt die deutsche Bilanz frustrierend aus. Schauen wir auf die Fakten. Deutschland hängt bei den Impfungen derzeit in der Dritten Liga fest – irgendwo zwischen Platz 40 und Platz 50.
Eine schmerzliche Erkenntnis verglichen mit dem Selbstlob beim Start in die Pandemie, als wir uns allerorten auf die Schultern klopften, wie toll unser Land, wie groß unser Organisationstalent und wie leistungsstark das Gesundheitswesen ist: Nun wissen wir, dass Israel, Großbritannien und die USA besser sind, aber Marokko, Griechenland, die Türkei und Rumänien? Offenbar ist es der viel gerühmte Föderalismus, der uns jetzt bremst und die Lage verschlimmert.
Es wurde zu spät bestellt, es wurde wie auf einem Basar gefeilscht
Erinnern wir uns daran, wer den ersten Impfstoff entwickelt hat. Genau, es war das Mainzer Unternehmen BionTech. Das Vakzin konnte hierzulande nicht verimpft werden, weil die Genehmigung fehlte. Während die Briten am 2. Dezember eine Notfallzulassung erteilten, ließ sich die Europäische Arzneimittel-Agentur viel Zeit. Sie folgte erst am 21. Dezember 2020 mit einer bedingten Marktzulassung, nachdem nationale Politiker wie Jens Spahn den Druck auf die Behörde erhöht hatten.
Die Impfungen begannen trotzdem erst am 27. Dezember, obwohl viele Zentren schon für einen Start Mitte Dezember vorbereitet waren. Zunächst wurde erst einmal mit Abstand Weihnachten gefeiert. Dann kamen sie kaum ans Impfen, weil der Stoff fehlte: Die gute Idee, gemeinsam als EU zu bestellen, verkam angesichts des Handlings zum Desaster.
Es wurde zu spät bestellt, es wurde wie auf einem Basar gefeilscht – und am Ende versuchte die Politik noch, den Herstellern die Schuld in die Schuhe zu schieben. Mal wurden in Brüssel halb gare Zahlen über die vermeintliche Gier von BionTech gestreut, dann Impfausfuhrkontrollen angedroht. Jedem Impfstoffhersteller wäre da Boris Johnson oder Donald Trump als Kunde lieber.
In der Impfstoffbeschaffung liegt der entscheidende Fehler
Auch wenn die beiden Populisten sind, haben sie schnell und radikal gehandelt – und rechtzeitig die Wertschöpfungskette aufgebaut, die der komplizierte Impfprozess verlangt. Großbritannien setzte im März 2020 eine Task Force ein mit der Managerin Kate Bingham an der Spitze. Sie war schnell, mutig – und hatte das Kapital. Im Sommer lief in den USA die „Operation Warp Speed“ mit Hilfen für den Aufbau von Produktionsstätten nicht nur für den Impfstoff selbst, sondern auch für Glasfläschchen, die Herstellung spezieller Lipide, Spritzen an. Zum Vergleich: BionTech musste den Aufbau des Marburger Impfstoff-Werks selbst stemmen.
Inzwischen ist das auch der deutschen Politik klar geworden: Die Bundesregierung strebt für das nächste Jahr an, dass sich Deutschland selbst mit Impfstoff versorgen kann. Von 2022 an solle „eine sichere Versorgung über eigene Produktionskapazitäten gewährleistet“ sein, sagte der Impfstoffbeauftragte der Regierung, Christoph Krupp (SPD), dem Abendblatt. Wo stünden wir, wenn dieser Beschluss im März 2020 gefallen wäre? In der Impfstoffbeschaffung liegt der entscheidende Fehler in einer langen Fehlerkette.
Wir leben in einem Land der Angst
Jedem hätte klar sein müssen, dass angesichts der horrenden Folgekosten Geld keine Rolle spielen darf. Der Lockdown hat die deutsche Volkswirtschaft nach Zahlen des Instituts der deutschen Wirtschaft allein im ersten Quartal rund 50 Milliarden Euro gekostet – insgesamt steht die Corona-Rechnung damit bei 250 Milliarden Euro. Angesichts dieser Zahlen kann die Strategie nur lauten: impfen, impfen, impfen! Clemens Fuest, der Präsident des ifo-Instituts, rechnete in der ARD vor: „Schätzungen sagen, der Vorteil jeder einzelnen zusätzlichen Impfung, die früher geliefert wird, liegt bei 1500 Euro.“ Die Kosten pro Impfung liegen zwischen 2,50 bis 18 Euro.
Angesichts dieser Zahlen stellt sich die Frage, ob die Bundesregierung gut beraten war, Impfungen mit AstraZeneca auszusetzen: Es geht um 13 Thrombose-Fälle als Nebenwirkung. Bleibt da der Nutzen nicht größer als das Risiko? Entweder wir befinden uns in der größten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg, dann gilt der Satz: Not kennt kein Gebot. Oder es ist alles doch nur drei Viertel so schlimm – dann stellt sich die Frage, warum wir von einem Lockdown in den nächsten stolpern.
Die Antwort: Wir leben in einem Land der Angst. Wir fürchten uns vor allem und jedem und halten das Leben im Lockdown für die risikofreie Variante – eben deshalb, weil wir die fatalen Folgen von Schulschließungen, Vereinzelung und Berufsverboten gern übersehen. Fast hat man den Eindruck, dass Einzelne die Gemütlichkeit von Heimarbeit und Entschleunigung schätzen gelernt haben. Das Leben im Lockdown als Pensionär mit Garten und Ferienwohnung sieht aber anders aus als das Leben in Kurzarbeit mit vier schulpflichtigen Kindern in der Mietskaserne.
Auch in der Jahrhundertpandemie bleibt das Wochenende heilig
Das Impfen klappte bundesweit schon vor dem AstraZeneca-Aussetzer eher suboptimal. Leider wird bis heute an Sonnabenden und Sonntagen nur mit halber Kraft geimpft, mehrere Zehntausend Dosen bleiben am Wochenende liegen. Aber diesen Rhythmus kennen wir ja schon von Gesundheitsämtern: Auch in der Jahrhundertpandemie bleibt das Wochenende heilig.
Fast jeder könnte beim Stammtisch, wenn dieser erlaubt wäre, von seinem privaten Impfdesaster erzählen. Von Senioren, die an der Online-Anmeldung scheitern oder in den Dauerschleifen der Telefonhotline verzweifeln. Über eine Bürokratie, die Ehepaare zunächst verbot, sich gemeinsam anzumelden. Von Pleiten, Pech und Pannen, bei denen 79-Jährige kurz vor ihrem 80. Geburtstag wieder ausgeladen wurden, weil sie noch nicht zur Prioritätsgruppe 1 gehören. Von Schlangen vor Impfzentren, die gebrechlichen Menschen Angst machen.
Von Datenschutzbedenken, an denen die Einladungen scheitern. Und von einem Anspruchsdenken, das in der Gesellschaft das Impfen erschwert. Glückliches Israel, wo sogar in Bars geimpft wird. Inzwischen beginnen sogar frühere Bundesminister am Staat zu zweifeln: Ex-Familienministerin Kristina Schröder twitterte: „Ärztepaar, im Januar und Februar mit BionTech geimpft, muss dennoch wegen positiver Tochter in Quarantäne. 14 Tage Freiheitsentzug, um Risiko noch mal minimal zu senken. Derart offenkundig Unverhältnismäßiges von meinem Staat irritiert mich zunehmend.“
Lieber nichts machen als etwas falsch machen
Bis zur überraschenden Aussetzung der Impfungen mit AstraZeneca stapelten sich von den ausgelieferten 3,5 Millionen Dosen schon 1,65 Millionen in den Lagern. Nun wurden es von Tag zu Tag mehr. In Großbritannien wurde unverdrossen weiter AstraZeneca geimpft. Auch Österreich blieb dabei: Gesundheitsminister Rudolf Anschober sagte, nationale Alleingänge seien „weder effektiv noch vertrauensbildend“.
Wer vor dem Stopp Impfen kritisch sah, dürfte sich durch derlei Beschlüsse endgültig ins Lager der Gegner verabschieden. Zwar gibt es Millionen Menschen im Land, sich sofort impfen lassen würden – wissend um die Nebenwirkungen, aber Deutschland streitet lieber, wer die Vakzine bekommen darf und wie hart man Impfvordrängler sanktioniert. Zur Not wirft man überschüssige Dosen lieber weg, bevor man sich strafbar macht. Wenn überall ein Anwalt lauert, lautet das Motto: Lieber nichts machen als etwas falsch machen.
Auch ein Jahr nach Beginn der Pandemie wissen wir viel zu wenig, wer sich wo und warum infiziert. Als Klinikärzte meldeten, dass viele Intensivpatienten einen Migrationshintergrund haben, wurde die Debatte schnell erstickt: „Es liegen solche Daten dem Robert-Koch-Institut nicht vor, und nach Paragraf 11 des Infektionsschutz-Gesetzes werden diese Daten auch nicht erfasst“, sagte Lothar Wieler, Chef des Robert-Koch-Instituts.
In Großbritannien und den USA werden die Zahlen erhoben: In den Vereinigten Staaten war das Risiko für Nichtweiße zu sterben, doppelt so hoch, in England war das Risiko für Schwarze deutlich erhöht. Hier geht es nicht um die Stigmatisierung von Minderheiten, sondern ganz im Gegenteil um den Schutz von Risikogruppen. Wer darüber schweigt, riskiert Leben.
Noch immer reagieren wir auf das Virus wie im Mittelalter
Und auch auf die Gefahr, sich zu wiederholen: Wie lange soll die Pandemiebekämpfung auch am Datenschutz scheitern? Wüsste unsere Corona-App, was die US-Datenkraken von uns wissen, sie wäre ein schärferes Schwert. Aber wir haben 69 Millionen Euro in eine App investiert, die zwar Datenschützer glücklich macht, aber leider nichts bringt.
Sie speichert keine Aufenthaltsorte, sondern funkt nur einen Code per Bluetooth an andere Mobiltelefone in der Nähe (Tracing). Wenn nun jemand infiziert ist und diese Codes abgeglichen werden, weiß niemand mehr, wo man sich unter Umständen infiziert hat.
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Noch immer reagieren wir auf das Virus wie im Mittelalter: Wir fahren das Land herunter, schließen Geschäfte und Museen, Fitnessstudios und Theater – nicht, weil wir es wissen, sondern weil wir nichts wissen. Auch wenn die Digitalisierung kein Allheilmittel ist: Ihre Chancen werden hierzulande zu wenig genutzt, ja nicht einmal ernsthaft diskutiert. Mit Nonchalance werden Grundwerte eingeschränkt wie „die ungestörte Religionsausübung“, die Versammlungsfreiheit, die Freizügigkeit. Haben alle Deutschen noch „das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen“?
Wie sich die Digitalisierung zur Pandemiebekämpfung nutzen lässt, beweisen südostasiatische Staaten: Südkorea setzt eine App ein, die Bewegungsprofile der Nutzer erstellt und an die Behörden übermittelt. Die Gesundheitsbehörden können so nicht nur Quarantäne-Auflagen kontrollieren, sondern auch Nachverfolgungen anstellen. Südostasien liegt bei der Nutzung der Daten vorne, Deutschland beim Datenschutz. Man muss eben Prioritäten setzen.
In der dritten Welle diskutieren viele lieber über Gendersterne
Es gibt ein Systemversagen, das nur zum Teil die Politik betrifft. Es sind wir alle, wie der Datenschutz zeigt. Dazu gehören auch die Medien: Bei Phoenix schilderte die Israel-Korrespondentin der ARD empört, dass der israelische Staat im Gegenzug für den Impfstoff die Daten seiner Bürger an Pfizer weitergibt. Skandal? Offenbar fürchten manche Deutsche mehr um ihre Daten als um ihr Leben. Dabei profitiert nun die ganze Welt genau von diesen Daten der Israelis.
Viele zentrale Fragen nach einem Jahr im Lockdown werden kaum gestellt: Wenn zwei Häftlinge aus dem Gefängnis türmen, fordern wir wie selbstverständlich den Rücktritt des zuständigen Ministers. Wenn auf europäischer Ebene die Impfstoffbeschaffung kolossal floppt oder der deutsche Gesundheitsminister nur noch ein Ankündigungsminister ist, bleiben die Rufe nach einem Rücktritt seltsamerweise aus.
Vielerorts diskutieren Politik und Medien in ihren Blasen Themen, die einer großen Mehrheit völlig fremd oder egal sind. Verfolgt man die Debatten bei Twitter geht es weniger um die größte Pandemie seit 100 Jahren als vielmehr um die Frage, ob der öffentliche-rechtliche Rundfunk nicht endlich gendern sollte oder ob eine weiße Holländerin Gedichte einer schwarzen Lyrikerin übersetzen darf.
Journalisten sind nicht zum Klatschen da, sondern zum Aufklären
Nun sollte man auch nicht in ein einziges Krisen- und Untergangsgeheul verfallen. Aber Journalisten sind nicht zum Klatschen da, sondern zum Aufklären. Wer sagt, hierzulande laufe es prima, spricht die Unwahrheit – oder er ist der Meinung, dass Mittelmaß das neue Gardemaß in Deutschland ist. Auszuschließen ist das nicht: Bürgerliche Tugenden wie Ehrgeiz, Fleiß und Leistung gelten als Zöpfe von vorgestern, Zuverlässigkeit, Akribie und die Verliebtheit ins Gelingen stehen unter Generalverdacht.
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Ganz neu ist das nicht, wie der Satz von Oskar Lafontaine aus dem Jahr 1982 zeigt: „Helmut Schmidt spricht weiter von Pflichtgefühl, Berechenbarkeit, Machbarkeit, Standhaftigkeit. [...] Das sind Sekundärtugenden. Ganz präzis gesagt: Damit kann man auch ein KZ betreiben.“ In diesen Tagen der Pandemie würde man sich einen Helmut Schmidt wünschen, der mit dem Mut zum Risiko handelt und nicht nur auf Sicht fährt. Zugespitzt: Jetzt haben wir alle ein freies Wochenende – auch wenn es nicht alle überleben.
Einsicht ist der erste Weg zur Besserung
Kommen wir noch einmal auf den Witz vom Anfang zurück. Er hat schon einen längeren Bart und gehörte zu den Lieblingsgags des Kalten Kriegers Ronald Reagan. Damals ging er so: „Nach fünf Stunden vergeblichen Wartens vor der Schlachterei sagt ein älterer Mitbürger: „Jetzt habe ich aber die Faxen dicke, morgen fahre ich zum Kreml.“
Ein Witz aus der Misswirtschaft des Kommunismus, der die Lage in der Bundesrepublik des Jahres 2021 beschreibt. Humor ist der Knopf, der verhindert, dass uns der Kragen platzt! Immerhin: Einsicht ist der erste Weg zur Besserung!