Tokio. Die Menschen altern und werden dabei immer einsamer. In Tokio geht man einen ungewöhnlichen Schritt – und erschafft ein besonderes Amt.

„Bitte wählen Sie von den folgenden Optionen jene aus, die zu Ihnen passt“, fordert der Chatbot. Die klickbaren Felder reichen von „Ich fühle mich so schlecht, dass ich sterben will“ über „Ich verstehe kein Japanisch“ bis zu „Ich möchte über einige Sorgen sprechen.“ Auf die entsprechende Wahl hin schlägt die Website mehrere Livechats mit verschiedenen Themenschwerpunkten und den entsprechenden Öffnungszeiten vor. Die Botschaft dahinter: Wir sind für dich da, du bist nicht allein.

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Dieser Chatbot richtet sich an alle Menschen in Japan, die sich einsam fühlen. Verantwortet wird er vom Staat, genauer gesagt: Vom nationalen Ministerium für Einsamkeit. Denn dort weiß man: Einsamkeit ist eine ziemlich typische Angelegenheit. Eine Umfrage der Regierung ergab 2022, dass sich gut 40 Prozent aller Personen im Land, die zumindest 16 Jahre alt waren, im vorangegangenen Jahr einsam gefühlt hatten. Es war ein Anstieg von knapp vier Prozentpunkten.

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In Deutschland schlägt das Thema Einsamkeit Wellen, seit BundesfamilienministerinLisa Paus Ende Mai erstmals die Ergebnisse des Einsamkeitsbarometers vorstellte. Demnach hat Einsamkeit mit dem Abklingen der Pandemie zwar leicht nachgelassen, findet sich aber in allen Altersklassen wieder. Die Regierung ist besorgt und hat vor kurzem auch eine Einsamkeitsstrategie beschlossen. Dabei wird darauf hingewiesen, dass Staaten wie Großbritannien und Japan schon einen Schritt weiter sind.

Japan ergreift Maßnahmen: Telefonseelsorge, Chatbot, Austauschgruppen

In Japan wurde bereits 2021 ein Ministerium für Einsamkeit geschaffen. Seit mittlerweile Jahrzehnten spricht man im Land über das Thema: Einerseits ist da der Trend der demografischen Alterung, der gekoppelt mit der Urbanisierung dazu führt, dass ältere Menschen oft alleine und ohne Familienmitglieder in der Nähe leben. Andererseits hat nicht zuletzt der prekäre Arbeitsmarkt im Land dazu geführt, dass sich junge Menschen in hohen Zahlen aus dem sozialen Leben zurückgezogen haben.

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    Den Ernst der Lage versteht man in Japan daher schon länger. Und im vergangenen Frühjahr trat erstmals ein Gesetz in Kraft, das das Einsamkeitsministerium erarbeitet hat. Neben einer Telefonseelsorge ist der Chatbot die bisher wohl bekannteste Maßnahme. Und die ist nur auf den ersten Blick banal. Denn vielen Menschen fällt es schwer, über Probleme wie Einsamkeit direkt zu sprechen. Anonymes Chatten kostet oft weniger Überwindung.

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    Auf Lokalebene werden nun auch Austauschgruppen ins Leben gerufen, die Menschen aus der jeweiligen Kommune zusammenbringen sollen. Dabei wird offenbar großer Wert darauf gelegt, dass die persönlichen Informationen der Teilnehmenden geschützt beiben. Die Weitergabe sensibler Daten soll mit mehrmonatiger Haft oder Geldstrafen belegt werden. Für diejenigen, die sich dennoch nicht zu persönlichen Treffen trauen, soll auch das Personal für Livechats ausgebaut werden.

    Japan: Miteinander mit anderen Menschen wird zunehmend zum Luxus

    Eine Taskforce der Regierung will weitere Maßnahmen erarbeiten. Denn dies sind bloß erste Schritte auf einem Feld, das für die Politik noch eher neu ist. Die Forschung dagegen kennt es schon länger, vor allem in Japan. Auf die Frage, warum Einsamkeit hier ein so häufiges Problem ist, haben bereits mehrere Wissenschaftsdisziplinen Antworten parat. Neben demografischen und psychologischen Hintergründen werden zumindest für Japan häufig auch kulturelle und technologische Gründe genannt.

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    Mitsunori Ishida, Soziologieprofessor an der Waseda Universität in Tokio, erklärt das Phänomen so: „Die japanische Form des Liberalismus legt großen Wert auf die Verantwortung des Individuums gegenüber dem sozialen Umfeld.“ Soll heißen: Einzelpersonen haben dafür Sorge zu tragen, ihren Teil zur Gruppe, in der sie sich befinden, beizutragen. Nur habe sich Japans Gesellschaft auf eine Weise modernisiert, die für ein starkes Gemeinschaftsgefühl nicht immer förderlich sei.

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    „Die traditionellen Gemeinschaften ruraler Landwirtschaft, in denen es sehr starke Bande zwischen den Menschen gab, empfinden die Menschen in Japan heute oft als erdrückend“, erklärt Ishida. Viele Menschen haben das Leben in großen Städten wie Tokio oder Osaka gesucht. Im Zuge des Wirtschaftswunders nach dem Zweiten Weltkrieg setzten sich dort extreme Formen der Individualisierung und Arbeitsteilung durch. So sehr, dass Interaktion mit anderen Personen gar zu einer Art Luxus wurde.

    Japan ist nicht allein mit dem Problem

    „Es wurde ein robustes System errichtet, mit Gütern, Dienstleistungen und sozialer Sicherheit, um die Menschen zu befähigen, ohne von anderen abhängig zu sein.“ Schon deutlich länger als in vielen anderen reichen Ländern gibt es in Japan etwa Lieferservices für Essen und Einkäufe sowie große Online-Communitys. Ishida führt aus: „Wer dann anderswo um Hilfe bittet, gilt schnell als Belästigung.“ Als große japanische Tugend gilt schließlich, seiner Umwelt nicht zur Last zu werden.

    Die kulturellen Hintergründe für Einsamkeit mögen je nach Land unterschiedlich sein – Einsamkeit an sich scheint in alternden Industriegesellschaften aber eine Gemeinsamkeit zu sein. So hat Japans Einsamkeitsministerium auch schon großes Interesse aus dem Ausland erfahren. Bereits 2021, im Jahr der Gründung des Ministeriums, berichtete die Tageszeitung Mainichi Shimbun, dass namhafte Medien aus Spanien, den USA, Russland und Südkorea zu Interviews nach Tokio gereist waren.

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    Auch auf Politikebene ist das Interesse groß. Die Einsamkeitsministerien von Japan und Großbritannien vereinbarten gleich 2021, jährlich zu gelungenen Maßnahmen zu konferieren. Und Deutschland will mitmachen. Lisa Paus hat im Juni 2023 ein gemeinsames Statement mit Japans damaligem Einsamkeitsminister Masanobu Ogura veröffentlicht, in dem es ebenso heißt: „Beide Seiten haben vereinbart, Informationen zum Kampf gegen Einsamkeit und soziale Isolation auszutauschen.“