Berlin. Die AfD schnitt bei der Europawahl unerwartet gut bei jungen Wählern ab. Zwei Expertinnen versuchen sich an einer Erklärung dafür.
Zum ersten Mal haben viele Jugendliche ab 16 Jahren ihre Stimme bei der Europawahl abgeben. Das Ergebnis überraschte viele Beobachter: 17 Prozent der 16- bis 24-Jährigen in Deutschland haben sich für die Union entschieden, die AfD folgt auf Platz zwei mit 16 Prozent. Warum dieser hohe Zuspruch ausgerechnet bei den jungen Wählerinnen und Wählern?
Fachleute sehen einen Grund in mangelnder politischer Bildung und nehmen die Schulen in die Pflicht. „Politische Bildung an der Schule hat oftmals keine große Priorität mehr – egal, in welches Bundesland man schaut“, erklärt Hanna Lorenzen. Sie ist Sprecherin der Gemeinsamen Initiative der Träger Politischer Jugendbildung, einer Arbeitsgruppe des Dachvereins Bundesausschuss Politische Bildung e.V., zu dem zahlreiche außerschulische Bildungsprojekte gehören. Lorenzen kritisiert, dass Politikunterricht oft ausfalle oder von Lehrern gegeben werde, die etwas ganz anderes studiert hätten.
Je nach Bundesland und Schulform unterscheide sich der Politikunterricht, so Lorenzen. „An Gymnasien gibt es tendenziell mehr politische Bildung als an anderen Schulen. An Berufsschulen fehlt sie nicht selten ganz.“ Eine Studie zur politischen Bildung im Bundesländervergleich aus dem Jahr 2022 von der Universität Bielefeld bestätigt das: „Von einer Gleichwertigkeit der politischen Bildung nach Schulstufen, Schulformen und Bundesländern kann keine Rede sein.“
Politische Bildung soll „unparteiisch, aber nicht wertfrei sein“
Zu politischer Bildung gehören in Deutschland schulische und außerschulische Angebote. Sie gilt in Deutschland als „unparteiisch, aber nicht wertfrei“, betont das Bundesministerium des Inneren und für Heimat auf ihrer Website. „Grundlage ist das Werte- und Demokratieverständnis der freiheitlich-demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes.“
Zur politischen Bildung zählen auch Projekte, zum Beispiel Projekttage oder Juniorwahlen, also schulinterne Wahlsimulationen. „Lehrer:innen haben die Möglichkeit, guten Politikunterricht zu machen. Viele sind aber überfordert oder nicht ausreichend ausgebildet, um immer aktuell zu sein“, sagt Prof. Dr. Sabine Achour, Politik- und Sozialwissenschaftlerin an der Freien UniversitätBerlin, unserer Redaktion. In der Realität sehe es jedoch oft anders aus. Viele Politikschulbücher seien dazu oft alt und könnten weggeworfen werden, sagt Achour. „Die wichtigen Themen passieren im Hier und Jetzt, da ist ein fünf Jahre altes Buch völlig überholt. Stattdessen brauchen wir die kritische Auseinandersetzung mit politischen Inhalten in sozialen Medien.“
Junge Alternative will mehr Leute in Schulen
Frei von rechten und rechtsextremen Personen sind Schulen natürlich nicht. Prof. Achour betont: „Fälle wie der des „Volkslehrers“ in Berlin haben gezeigt, dass die Neutralität des Lehrpersonals nicht garantiert werden kann. Leider ist es sehr schwierig, rechtsextreme Lehrer*innen aus dem Schulsystem zu entfernen.“ Der 42-Jährige wurde vom Amtsgericht Berlin-Tiergarten verurteilt: wegen Volksverhetzung in zwei Fällen, Hausfriedensbruchs, des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen und Beleidigung.
Die Politikwissenschaftlerin berichtet, dass die Junge Alternative aktiv Leute für das Lehramtsstudium in den Fächern Politik und Geschichte anwerbe. „Das ist gefährlich, Bildungspolitik und Universitäten registrieren diese Entwicklung“, betont sie. „Wir haben Rechte in Behörden, in der Justiz, in Schulen. Das sind Schlüsselpositionen und muss uns Sorgen machen.“
Was politische Bildung mit Wahlergebnissen zu tun hat
Hanna Lorenzen vom Verein Gemeinsame Initiative der Träger Politischer Jugendbildung sagt: „Es gibt schulisch wie außerschulisch zu wenig politische Bildung in Deutschland. Zugleich ist es nicht Auftrag der politischen Bildung Wahlergebnisse zu beeinflussen, sondern vielmehr die Grundlage für politische Beteiligung zu schaffen“ Ein weiterer Faktor: „Studien zeigen seit Langem, dass die Verunsicherung junger Menschen in Bezug auf ihre Zukunft sehr hoch ist. Es gibt einen massiven Vertrauensverlust.“
Prof. Achour sieht das ähnlich: „Wir haben die politische Bildungsarbeit im Osten nach der Wende nicht ernst genug genommen und einiges verpasst. Schulische und außerschulische politische Bildung sowie Jugendarbeit wurden stark reduziert.“
Man habe die sichtbaren Tendenzen nach rechts ignoriert und nicht proaktiv im Rahmen von Jugendarbeit reagiert. „Gleichzeitig haben wir mit den Wendekindern Leute, bei denen der Rechtspopulismus sehr gut funktionieren konnte, weil ihm (bildungs-)politisch nicht entgegengetreten wurde.“ Die Kinder der Rechtsextremen von damals seien oft die rechten Jugendlichen von heute.
Politische Bildung: Fachleute fordern mehr Investitionen
Wichtig sei, dass die Lehrer die Jugendlichen mitnehmen. „Als Lehrer:innen haben wir immer auch Chancen, auf die Jugendlichen einzuwirken, weil wir sie jeden Tag sehen. Daneben sind Sportvereine, Kirchen und Moscheen wichtige Orte für gute politische Jugendarbeit“, erklärt Prof. Achour.
„Schulen müssen aktiv mehr politische Arbeit machen. Die Europawahl sollte als Unterrichtsthema aufgegriffen werden. Auch die Parteiprogramme sollten bei den anstehenden Wahlen kritisch unter die Lupe genommen werden. Wo zeigen sich Demokratie-, EU-Skepsis und Menschenfeindlichkeit?“, so die Politik- und Sozialwissenschaftlerin.
Lorenzen betont: „Es ist wichtig, mit den Jugendlichen vor Ort ins Gespräch zu kommen. Man kann nicht in Berlin ein Bildungsangebot planen und hoffen, dass es im Thüringer Wald genauso funktioniert wie in Frankfurt am Main.“ Außerdem: „Die Anliegen der Jugendlichen müssen ernst genommen werden. Und zwar nicht alibimäßig. Sie müssen wissen: Ihre Stimme zählt!“
Und dafür brauche es mehr Unterstützung: „Seit Jahren stagniert bei uns die Zahl an pädagogischen Fachkräften – auch bei der Anzahl von Bildungsstätten gibt es einen Rückgang“, erzählt Lorenzen. Auch finanziell sehe es oft schwierig aus. „Wir sind sehr stark von öffentlichen Geldern abhängig, die in den letzten Jahren zu gering waren, um den wachsenden Bedarfen gerecht zu werden. Der Staat sollte mehr in die politische Bildung investieren“, meint Lorenzen.
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