Istanbul. Lehrer machen gegen die Pläne des Präsidenten mobil, rufen zu Protesten auf – und ihnen geht es nicht nur um die Zukunft der Kinder.

Schon jetzt suchen immer mehr Regierungsgegner Zuflucht in Deutschland. Nun nimmt sich der türkische Präsident auch die Jungen im Land vor. Er wünsche sich eine „fromme Jugend“, proklamiert Recep Tayyip Erdogan seit Jahren. Um seinem Ziel einen großen Schritt näher zu kommen, soll mit Beginn des neuen Schuljahres im September schrittweise an allen Schulen in der Türkei ein neuer Lehrplan eingeführt werden.

Ziel sei es, Kinder zu heranzuziehen, die „gehorsam, produktiv, patriotisch und fromm“ seien, erklärte Erdogan bei der Vorstellung des Programms. Es werde neue Unterrichtsfächer „über den heiligen Koran und das Leben des Propheten“ geben, kündigte der Staatschef an. Erziehungsminister Yusuf Tekin erklärte, der neue Lehrplan basiere auf „türkischen Werten“ und „den wegweisenden Moralvorstellungen“ der Regierung.

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Lehrergewerkschaften haben für diesen Dienstag zu Protesten ausgerufen. Die Lehrpläne stünden im Widerspruch zu dem weltlichen, wissenschaftlichen und demokratischen Bildungsauftrag. „Wir rufen alle auf, für die Rechte und die Zukunft unserer Kinder zu kämpfen“, schrieb der Vorstand der Lehrergewerkschaft Egitim-Sen auf X. Man brauche ein religiöses Wörterbuch, um den neuen Lehrplan zu verstehen, sagt Kadem Özbay, der Vorsitzende der Gewerkschaft.

Lehrerverband: Erdogan will „eine seelenlose Roboter-Generation“

Das Curriculum habe zum Ziel, „eine seelenlose Roboter-Generation heranzuziehen, die nicht denkt, keine Fragen stellt, nicht kritisiert, nicht widerspricht oder interpretiert“. Die Gewerkschaft kritisiert unter anderem, dass der Lehrplan für das Fach Biologie die göttliche Schöpfung in den Mittelpunkt stellt und die Evolution als eine „unbewiesene Theorie“ nur am Rande erwähnt. Murat Emir, stellvertretender Fraktionschef der sozialdemokratischen Oppositionspartei CHP, wirft der Regierung vor, sie wolle dem Land „ihre eigenen ideologischen Besessenheiten“ aufzwingen.

Recep Tayyip Erdogan, Präsident der Türkei, möchte die Evolution als unbewiesene Theorie in die Lehrbücher bringen.
Recep Tayyip Erdogan, Präsident der Türkei, möchte die Evolution als unbewiesene Theorie in die Lehrbücher bringen. © DPA Images | Burhan Ozbilici

Sogar in der Vorschulerziehung hat die Islamisierung Einzug gehalten. In einem Kindergarten in der Provinz Sakarya wurden die Kinder im März während des Fastenmonats Ramadan gezwungen, bis zum Mittag zu fasten. Vorschulkinder sollen nach einem im vergangenen Jahr in Kraft gesetzten Protokoll der Religionsbehörde Diyanet und des Erziehungsministeriums auch lernen, wie man angemessen bei einem Begräbnis seine Trauer zeigt und wie man mit einem Messer ein Opfertier schlachtet, um das Wohlgefallen Allahs zu erlangen.

Erdogan verteidigt den neuen Lehrplan. „Wir werden es nicht zulassen, dass sich jemand zwischen die Kinder dieses Landes und die religiösen Werte stellt“, sagte er vergangenen Freitag. „Die Zeiten, als Kinder diskriminiert wurden, weil sie beteten oder Kopftücher trugen, sind vorbei“, so der Staatschef. Der neue Lehrplan solle die „Werte der Familie“ vermitteln.

Provokation gegen Griechenland: Rhodos gehört zur Türkei

Familiäre Werte sind eines der Lieblingsthemen des türkischen Staatschefs. Erdogan führt seit Jahren einen Feldzug gegen Schwule, Lesben und transsexuelle Menschen. Die LGBT-Bewegung zersetze die Gesellschaft und sei zu einer „Tyrannei und Unterdrückung geworden, die selbst den Faschismus übertrifft“, sagte er laut der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu. Auch außenpolitisch birgt der Lehrplan Sprengstoff: An den Schulen soll künftig die Doktrin von der „Blauen Heimat“ gelehrt werden. Sie besagt, dass die östliche Hälfte der Ägäis mit griechischen Inseln wie Rhodos, Kos und Lesbos zur Türkei gehört.

Erdogan: Orthodoxe Kirche wird in Moschee umgewandelt
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