Kiruna. Ein spektakulärer Fund Seltener Erden macht Nordschweden zur neuen Schlüsselregion für die Klimawende – & verdrängt eine ganze Kultur.
Von dem Hang aus, auf dem Lars-Marcus Kuhmunen steht, hat er einen guten Blick darauf, was schon verloren ist. Mit der Hand beschreibt er einen Bogen, über Häuser, Eisenbahnwaggons, Straßen. „Alles, was man hier sieht, war einmal Sámi-Gebiet“, sagt er. „Da unten, am See, das war das Land, wo die Kälber groß wurden und wo wir im Frühling gelebt haben.“
Auch jetzt ist noch Frühling im Norden Schwedens, in den Straßengräben schmilzt der letzte Schnee in der Sonne. Doch vor ihm im Tal weiden schon lange keine Rentiere mehr. Stattdessen liegt dort nun die Stadt Kiruna, und die größte unterirdische Eisenerzmine der Welt, betrieben vom staatlichen schwedischen Bergbaukonzern LKAB.
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Kuhmunen ist ein groß gewachsener Mann, dem man ansieht, dass er viel draußen ist. Er gehört den Sámi an, dem einzigen verbliebenen indigenen Volk Europas. Im Norden der skandinavischen Halbinsel erstreckt sich Sápmi, das Land der Sámi, von der Küste Norwegens über Schweden und Finnland bis hinter die russische Grenze. Das Volk lebt traditionell von der Rentierhaltung. Mit ihren Herden ziehen die Rentierhirten im Laufe des Jahres von den Bergen in Richtung Meer und wieder zurück.
Schweden: Auf Sámi-Gebiet weckt der Boden Begehrlichkeiten
Doch der Raum, der ihnen dafür bleibt, ist über die Jahrzehnte immer kleiner geworden. Jetzt droht er vollständig zu verschwinden: Denn auf den wenigen Quadratkilometern, auf denen die Sámi und ihre Rentiere an der Stadt vorbeiziehen, die in ihrer Sprache Giron heißt, ist es eng geworden. Hier drängen sich seit Kurzem die Hoffnungen der EU auf mehr Unabhängigkeit von China, auf einen Schub für die grüne Umstellung der Wirtschaft, auf sehr viel Geld.
Kuhmunens größte Sorge liegt auf der anderen Seite des Berges und hat einen Namen: Per Geijer. So heißt ein riesiges Vorkommen von Mineralien, das dort 500 bis 2000 Meter unter dem federnden, moosbedeckten Boden liegt. „Wenn sie das Per-Geijer-Vorkommen ausbeuten, sind unsere Sommerweiden in den Bergen abgeschnitten von den Winterweiden im Osten“, sagt Kuhmunen. „Es wäre das Ende der Rentierhaltung für die Gabna-Gemeinde, und das Ende traditioneller Sámi-Kultur hier.“
Rund eine Milliarde Tonnen Eisenerz ruhen nach Angaben von LKAB dort unter der Oberfläche. 1,18 Prozent davon sind laut LKAB sogenannte Metalle der Seltenen Erden. Eingesetzt unter anderem in der Herstellung von Magneten für Batterien, gehören sie zu den Schlüsselrohstoffen, für die Energiewende, Elektromobilität und die Umstellung auf eine klimafreundliche Wirtschaft insgesamt.
China dominiert Markt für Seltene Erden – EU will Unabhängigkeit
Was zusammengefasst wird als „Seltene Erden“, ist eigentlich gar nicht so selten. Im Boden kommen Neodym, Praseodym und andere an vielen Stellen vor, aber häufig nur in so geringen Konzentrationen, dass sich der Abbau wirtschaftlich nicht lohnt. Das unterscheidet Per Geijer von anderen Lagerstätten: Verglichen mit dem Gestein in der bereits existierenden Mine in Kiruna oder anderen Vorkommen in Nordschweden ist die Konzentration hier zehnmal höher, sagt das Minenunternehmen LKAB. Dazu kommt neben Eisenerz auch Phosphor, der hier im Boden liegt, und die Ausbeutung attraktiv macht.
Begehrlichkeiten hat Per Geijer nicht nur bei LKAB geweckt, sondern auch im weit entfernten Brüssel. Im März wurde mit dem Critical Raw Materials Act ein neues EU-Rohstoffgesetz verabschiedet, das die EU unabhängiger machen soll von China. Aktuell kommen rund 70 Prozent der Seltenerdmetalle auf dem Weltmarkt aus der Volksrepublik, in der Weiterverarbeitung ist Chinas Marktanteil noch deutlich höher.
Es ist eine Abhängigkeit, die für Europa auf dem Weg zur Klimaneutralität allzu leicht zum Problem werden kann. Nicht zufällig verkündete LKAB den Fund des Vorkommens im Januar 2023, als in Kiruna gerade EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zu Gast war, um gemeinsam mit dem schwedischen Ministerpräsidenten Ulf Kristersson und Energieministerin Ebba Busch die damalige schwedische Ratspräsidentschaft zu eröffnen.
Minenbetreiber LKAB: „Wir verstehen, dass sie sich Sorgen machen“
Ziel des neuen EU-Gesetzes sind unter anderem schnellere Genehmigungen. Im besten Fall, heißt es bei LKAB, könnte in fünf bis zehn Jahren mit dem Abbau begonnen werden. Derzeit dauert der Genehmigungsprozess für derartige Projekte in Schweden eher zehn bis 15 Jahre. Die Vorbereitungen auf den Moment, in dem die Genehmigung da ist, laufen aber schon jetzt.
910 Meter unter der Erdoberfläche frisst sich ein Bohrgerät von der Größe eines LKW jeden Tag bei grellem Scheinwerferlicht und unter ohrenbetäubendem Lärm in das senkrechte Gestein am Ende des Explorationstunnels. Die 79 Löcher, die so in die Wand kommen, werden mit Sprengstoff gefüllt. In der Nacht, wenn niemand mehr im Tunnel ist, werden die Sprengsätze gezündet, und der Tunnel wird wieder ein Stück näher an Per Geijer sein. Gut fünf Meter pro Tag arbeitet sich das Team von LKAB so vor, von der bestehenden Mine in Richtung des neuen Vorkommens.
„Wir verstehen, dass sie sich Sorgen machen“, sagt Anders Lindberg, Sprecher von LKAB, über die Einwände der Sámi. „Aber wir können uns nicht aussuchen, wo das Vorkommen ist.“ Das Unternehmen betont, dass es eine enge Zusammenarbeit mit den Rentierhaltern will und nach Lösungen sucht. Und neben der Ausbeutung von Per Geijer setzt LKAB auch darauf, Seltene Erden aus Recycling zu gewinnen, durch die Weiterverarbeitung von Minenabfällen aus dem Eisenerzabbau.
Sámi: Minenprojekt erinnert an Kämpfe, die sie verloren haben
Doch ein Ersatz für den Abbau sei das nicht, sagt Lindberg. Denn die Seltenen Erden seien ein „Bonus“ – aber Eisenerz und Phosphor würde der Konzern auch dann abbauen, wenn sie nicht da wären. Für die Sámi-Gemeinde Gabna, deren Rentierherden betroffen sind, geht es deshalb nicht um den Aufbruch in eine grünere Zukunft, der ein bedauerliches Opfer nötig macht. Sie sehen stattdessen die Fortsetzung einer Geschichte von Kämpfen, in der die Sámi am Ende stets als Verlierer dastanden.
Anders als andere europäische Staaten war Schweden nie eine Kolonialgroßmacht in Übersee – stattdessen blickte man von Stockholm aus auf die Ressourcen im Norden. Die Sámi erlebten, was andere Völker in Kolonien auch erfahren haben. Sie wurden vermessen, herabgesetzt, ihre Sprache in den Schulen unterdrückt. Bis heute, sagt Kuhmunen, sei es für Kinder einfacher, in der Schule lieber nicht zu erzählen, dass sie Sámi sind.
Schätzungen zufolge leben 20.000 bis 40.000 Sámi in Schweden, etwa ein Zehntel davon hauptsächlich von der Rentierhaltung. Ihr Gebiet erstreckt sich über 51 Sámi-Dörfer, die keine Ortschaften sind, sondern Wirtschaftsverbände, und ihre angestammten Weidegebiete.
In Kiruna muss wegen der Mine ein ganzes Stadtzentrum umziehen
Kuhmunen steht der Gemeinde Gabna vor, gemeinsam mit Karin Kvarfordt Niia vertritt er die Interessen von etwa 300 Menschen. Nur noch eine Handvoll Familien des Dorfes arbeitet aktiv mit den Rentieren, Kuhmunens ist eine davon. Doch ein Ende der Rentierhaltung hätte Folgen für alle, sagt er, denn Kultur und Identität seien eng mit der Haltung der Tiere verflochten. „Ohne die Rentiere“, sagt er, „gibt es die Kultur der Sámi nur im Museum.“
Damals ging es um Wasserkraft, um Forstwirtschaft, um Eisenerz. Heute, so sehen sie es, sind es eben Windenergieparks und Seltene Erden. Der grüne Boom im Norden Schwedens fordert Land – Land, das den Sámi damit nicht mehr zur Verfügung steht. Allein im Gebiet der Gemeinde Gabna gebe es fünf aktive Minenprojekte, sagt Kvarfordt Niia, bei anderen Sámi-Dörfern sieht es ähnlich aus. „Nach meiner Schätzung werden 90 Prozent aller neuen Anträge auf Nutzung des Landes mit der grünen Transformation begründet“, sagt sie. „Es ist Greenwashing“.
Und mit dem neuen Rohstoff-Gesetz der EU sieht sie auch Deutschland und andere EU-Staaten in der Verantwortung. „Was in Kiruna passiert, ist Landraub des letzten indigenen Lands in Europa“, sagt Kvarfordt Niia. „Dieses Gesetz wird eine Katastrophe für uns sein.“ Diese Meinung teilen in Kiruna aber nicht alle. Die Stadt ist ein Geschöpf der Mine, entstanden um sie herum und von ihr geformt. Schlagzeilen macht der Umzug des Stadtzentrums. Der ist nötig geworden, weil die Mine sich immer weiter ausgebreitet hat und der Boden unter dem alten Zentrum instabil wird. Bezahlt wird der Umzug von LKAB.
„Sie nehmen unsere Natur, unser Land, und lassen nichts zurück“
Im neuen Stadtzentrum kann man Mats Taaveniku treffen. Der Vorsitzende des Gemeinderats von Kiruna sitzt im großen, offenen Foyer des mit einem Architekturpreis ausgezeichneten neuen Rathauses. In der Ausbeutung des Per-Geijer-Vorkommens sieht der Sozialdemokrat vor allem eine Chance – für seine Gemeinde, sagt er, aber auch für die Sámi. „Die beste Art, die Rentierwirtschaft und den großen Wert unserer Natur zu beschützen, ist, aus fossilen Energien auszusteigen“, sagt er. Deshalb müssten die Seltenen Erden abgebaut und für Klimaschutz verwendet werden.
Fair verteilt, sagt auch Taaveniku, seien die Lasten derzeit nicht. Er fordert eine Steuerreform, die dafür sorgt, dass die Unternehmen, die die Ressourcen der Gegend nutzen, auch dort Steuern zahlen. „Im Moment nehmen sie unsere Natur, unser Land, sie profitieren davon und lassen nichts zurück für die Gemeinde.“ Das müsse sich ändern, sagt er. Dann könnten auch Rentierhirten wie die Familie von Lars-Marcus Kuhmunen entschädigt werden.
Doch eine Entschädigung ist nicht, was Lars-Marcus Kuhmunen und Karin Kvarfordt Niia wollen. Und an eine Lösung, die sowohl die Bodenschätze zugänglich macht und die Rentierhaltung erhält, glauben sie nicht. „Wir wollen unseren Kindern die lebendige Kultur übergeben“, sagt Kuhmunen. Über den Kampf, diese Chance zu erhalten, sprechen sie mit ihren Kindern allerdings kaum. „Niemand will euch hier‘“, sagt Kvarfordt Niia mit leiser Stimme. „Wie soll man das einem Kind sagen?“
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