Kiew. Eine Plattform, vier dicke Reifen: Im Krieg hat die Ukraine einen neuartigen Drohnen-Typ entwickelt. Der bedeutet Ärger für Putin.

Iwaniwske, nicht weit entfernt von Bachmut im Osten der Ukraine. Eine kleine vierrädrige Drohne holpert über eine trümmerübersäte Straße, stürzt in ein klaffendes Loch in einer Brücke, fällt sich überschlagend hinunter. Eine gewaltige Explosion, dichter Rauch steigt auf. Der Honigdachs hat seine Kamikaze-Mission erfolgreich absolviert. Die Brücke ist gesprengt, der Vormarsch für die russischen Angreifer erschwert. Die in einem Schwarz-Weiß-Video einer ukrainischen Überwachungsdrohne dokumentierte Szene ist der erste Bildbeweis für den Einsatz der Ratel S, einer weiteren Innovation im Krieg in der Ukraine. Die Drohne stammt aus heimischer Produktion. Die ukrainische Regierung möchte, dass die westlichen Partner deutlich mehr Geld für die ukrainische Rüstungsindustrie zur Verfügung stellen, damit das Land unabhängiger von ausländischen Waffenlieferungen wird.

Im dritten Kriegsfrühling ist die militärische Lage für die Ukraine schwierig. An allen Frontabschnitten von Charkiw im Nordosten bis Robotyne im Süden stehen die Verteidiger unter enormem Druck, den russischen Streitkräften gelingen an zahlreichen Stellen taktische Geländegewinne. Der Wankelmut der westlichen Partner ist einer der Gründe für die prekäre Situation: Für die Verteidigung dringend benötigte Waffen werden häufig erst nach langen Debatten zur Verfügung gestellt, innenpolitische Querelen wie in den USA verzögern die Lieferung neuer militärischer Hilfspakete, die amerikanische und europäische Rüstungsindustrie produziert unter Bedarf. Putin hingegen hat Russland schneller als von Analysten erwartet auf Kriegswirtschaft umgestellt. Die russischen Streitkräfte sind insbesondere in der Luft und bei Artilleriegeschossen noch immer drückend überlegen.

Ukraine: Mit Drohnen hinter die feindlichen Linien
Ukraine: Mit Drohnen hinter die feindlichen Linien

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    Die Ukraine setzt jetzt deswegen verstärkt auf den Wiederaufbau der eigenen Rüstungsindustrie, die zu Sowjetzeiten einen guten Ruf genoss, dann aber über Jahrzehnte vernachlässigt wurde. Der 2010 gegründete staatliche Rüstungskonzern Ukroboronprom, ein Konglomerat von mehr als 130 Firmen, galt lange als Hort der Korruption. „Wir hätten bereits 2014 einen Neustart gebraucht, als der Krieg begann. Wir hätten einen Neustart gebraucht, als die Invasion 2022 begann. Tatsächlich gab es den Neustart erst im vergangenen Jahr“, sagt Oleksandr Kamyschin. Der 39-Jährige ist seit März 2023 Minister für strategische Industrie. Seine Managerqualitäten hatte er zuvor als Chef der staatlichen Eisenbahngesellschaft Ukrsalisnyzja bewiesen, die er mit viel Improvisationstalent durch die ersten Kriegsjahre steuerte. Jetzt soll er die ukrainische Rüstungsindustrie ertüchtigen.

    Oleksandr Kamyschin ist seit März 2023 Minister für strategische Industrie in der Ukraine. Zuvor war er der Chef der staatlichen Eisenbahngesellschaft Ukrsalisnyzja.
    Oleksandr Kamyschin ist seit März 2023 Minister für strategische Industrie in der Ukraine. Zuvor war er der Chef der staatlichen Eisenbahngesellschaft Ukrsalisnyzja. © FUNKE Foto Services | André Hirtz

    Kamyschin: „Wir verfügen über die kampferprobtesten und modernsten Verteidigungstechnologien der Welt“

    Kamyschin sitzt in einem schlichten Büro irgendwo in der ukrainischen Hauptstadt Kiew, der genaue Ort darf aus Sicherheitsgründen nicht genannt werden. Als er seine neue Aufgabe übernahm, hätte die Ukraine nur wenige Rüstungsgüter selbst produziert, erzählt er. „Ein halbes Jahr lang bin ich morgens aufgewacht, habe die Daten des Vortags überprüft und alle gedrängt, mehr zu produzieren.“ Die großen Fabriken arbeiten jetzt sieben Tage in der Woche rund um die Uhr. Zahlreiche kleinere private Unternehmen haben sich neu gegründet oder ihre Produktion umgestellt. Rund 300.000 Menschen arbeiten aktuell in der ukrainischen Rüstungsindustrie.

    Eine Bodendrohne in Form eines Miniaturpanzers der serbischen Firma Yugoimport-SDPR J.P. bei einer Handelsausstellung für militärisch genutzte Drohnen in den Vereinigten Arabischen Emiraten.
    Eine Bodendrohne in Form eines Miniaturpanzers der serbischen Firma Yugoimport-SDPR J.P. bei einer Handelsausstellung für militärisch genutzte Drohnen in den Vereinigten Arabischen Emiraten. © picture alliance / Jon Gambrell/AP/dpa | Jon Gambrell

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    Theoretisch, sagt der Minister, könne die ukrainische Rüstungsindustrie jetzt Waffen im Wert von umgerechnet 20 Milliarden Dollar im Jahr produzieren. Gepanzerte Fahrzeuge, Artilleriesysteme, vor allem aber Drohnen. „Wir verfügen über die kampferprobtesten und modernsten Verteidigungstechnologien der Welt“, so Kamyschin. Die Ukraine sei in der Lage, Millionen kleinere Kamikaze-Drohnen zu produzieren und Tausende Drohnen mit großer Reichweite, die tief im russischen Hinterland angreifen können. Aber die ukrainische Regierung hat nicht genügend Geld, um den einheimischen Unternehmen ihre Produkte abzukaufen.

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    Bislang stünden nur umgerechnet sechs Milliarden Dollar für den Kauf ukrainischer Waffen zur Verfügung, sagt Kamyschin. Das meiste Geld stammt vom Verteidigungsministerium, manches aus privaten Spenden. Lediglich Dänemark und Kanada haben Finanzierungszusagen über umgerechnet 28,5 Millionen Dollar beziehungsweise 2,1 Millionen Dollar gemacht. Der Minister wirbt um eine Ausweitung der ausländischen Finanzierung: „Der beste Weg, uns zu unterstützen und die Sicherheit Europas und der Nato zu gewährleisten, ist, mehr Waffen und Munition von ukrainischen Produzenten zu kaufen und sie in der Ukraine zu lassen.“ Es wäre auch eine Investition in die Zeit nach dem Krieg. Noch gibt die ukrainische Regierung keine Genehmigung für den Export ukrainischer Waffen. Das könnte sich in Friedenszeiten ändern. Der Krieg mit Russland ist ein Innovationsmotor für die Rüstungsindustrie. Was in der Ukraine hergestellt wird, weckt Begehrlichkeiten im Ausland.

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    Künstliche Intelligenz im Krieg: Roboter-Kriegsführung wird zunehmend realistischer

    Valerii Hrysha ist Sprecher von Ratel. Vor dem Beginn der russischen Invasion hat das mittelständische Unternehmen Beleuchtungsanlagen hergestellt. Jetzt produziert es Bodendrohnen. „Das ist etwas völlig Neues“, sagt Hrysha. Die Maschinen sehen auf den ersten Blick wie etwas überdimensionierte Spielzeuge aus. Eine Plattform, vier dicke Reifen. Sie dienen unterschiedlichen Zwecken. Die größeren Maschinen sollen Munition und andere Ausrüstung an die Front fahren oder verwundete Soldaten in Sicherheit bringen. Mit den Kleineren können die Piloten Granaten in ein Ziel steuern oder Minen verlegen. „Es gibt Orte, die besser mit Bodendrohnen als mit fliegenden Drohnen erreicht werden können.“ Orte wie die bereits erwähnte Brücke bei Iwaniwske, die von einer der Bodendrohnen von Ratel gesprengt wurde. Ob die Maschinen bereits auf anderen Schlachtfeldern eingesetzt wurden und mit welchem Ergebnis, will Hrysha nicht verraten.

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    Anscheinend hat das Unternehmen aber das Interesse der ukrainischen Militärs geweckt. „Wir erwarten, dass wir einen Millionenauftrag der Regierung bekommen“, sagt Hrysha. Es ist ein Markt, auf den derzeit viele ukrainische Unternehmen drängen. „Es gibt viel Wettbewerb.“ Einige Anbieter experimentierten bereits mit ferngesteuerten Panzern, es würden viele Gespräche über den Einsatz von Künstlicher Intelligenz geführt, damit die Maschinen unabhängiger von menschlichen Piloten operieren können. „Ich glaube, wie es sich jetzt darstellt, sind wir sehr nah dran an der Roboter-Kriegsführung, die uns in Science-Fiction prophezeit wurde“, glaubt Hrysha. Angst vor dieser Entwicklung hat er nicht. Die Drohnen bräuchten schließlich Energie, ohne sie blieben sie einfach stehen. Das gilt auch für die ukrainische Rüstungsindustrie. Minister Kamyschin sagt: „Die Maschine kann laufen, wir brauchen nur den Treibstoff.“

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