Brüssel. Zoff bei Europas Rechten: Was hinter dem Rauswurf der AfD steckt, was Le Pen und Co. wollen – und welchen Verdacht es im Parlament gibt.
Eigentlich hoffen Europas Rechtspopulisten und Rechtsextremisten auf Rückenwind bei den Europawahlen. Doch wenige Wochen vor der Abstimmung am 9. Juni gibt es Krach am rechten Rand, Anlass ist die AfD. Am Donnerstag eskalierte die Aufregung um den AfD-Spitzenkandidaten Maximilian Krah, im Europaparlament schloss die Fraktion Identität und Demokratie alle neun Europaabgeordneten der AfD aus. Ein rein symbolischer Akt – aber ein neuer Beleg, wie zersplittert die Gruppe der europäischen Rechtsaußen tatsächlich ist und welche bizarre Rolle die AfD spielt.
„Die AfD gilt als die radikalste Vertreterin der Rechtspopulisten im Europäischen Parlament“, sagt der Bonner Parteienforscher Frank Decker unserer Redaktion. „Unter den Parteien mit einer relevanten Größe steht sie mit ihren extremen Positionen allein.“ Die AfD müsse sich darauf einstellen, dass sie wahrscheinlich im nächsten Parlament fraktionslos sei „und damit zunehmend isoliert und wirkungslos“.
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Dahinter stehen zwei gegenläufige Trends. Die Radikalisierung der AfD, deren völkische Parolen anderswo in Europa naturgemäß irritieren – und der Versuch von Rechts-außen-Parteien in anderen Ländern, mit einem rhetorisch gemäßigten Kurs salonfähig zu werden und Anschluss an konservative Parteien zu bekommen. Es ist kein Zufall, dass sich gerade die französische Rechtsextremistin Marine Le Pen besonders lautstark von der AfD absetzte. „Le Pen zielt für einen Erfolg bei den nächsten Präsidentschaftswahlen in Frankreich auf Wähler der bürgerlichen Mitte“, sagt Parteienforscher Decker.
Marine Le Pen ist auf Distanz zur AfD gegangen
Für das Projekt „Entdämonisierung“ warf Le Pen erst ihren Vater und Parteigründer Jean-Marie aus der Partei, weil er den Holocaust geleugnet und sich auch sonst immer wieder antisemitisch und rassistisch geäußert hatte. 2018 taufte sie die Partei um, aus Front National wurde Rassemblement National (RN): Die Parole heißt zwar immer noch „Frankreich zuerst“ und zielt auf eine EU à la carte, Le Pen schimpft weiter über „Migrationsüberflutung“ – aber von einem „Frexit“, einem EU-Austritt Frankreichs, ist keine Rede mehr, das hatte zu viele Franzosen abgeschreckt.
„Die radikalen Positionen der AfD, etwa zur Migration oder zum Austritt aus der EU, passen nicht zu Le Pens Strategie“, sagt Parteienforscher Decker. Le Pen nimmt aber auch Krah persönlich übel, dass er während des französischen Präsidentschaftswahlkampfs 2022 nicht sie, sondern ihren Konkurrenten im rechtsextremen Lager, Éric Zemmour, unterstützt hatte.
Schon nach den Enthüllungen über „Remigrations“-Planspiele war die Französin auf Distanz zur AfD gegangen. Nun ist das Tischtuch zerschnitten – noch vor der Europawahl, die zu einem Triumph für Le Pen werden soll. Die Umfragen sagen voraus, dass die Le-Pen-Truppe mit etwa 30 Prozent und weitem Abstand den Wahlsieg in Frankreich einfährt. Auch in anderen EU-Staaten erwarten Demoskopen solche Erfolge der Rechtspopulisten und -extremisten: Der Sieg bei der Europawahl winkt demnach in Italien den neofaschistischen Fratelli d‘Italia von Ministerpräsidentin Giorgia Meloni, in den Niederlanden der PVV des Islamgegners Geert Wilders, in Österreich der rechtsradikalen FPÖ, in Belgien der rechtsextremistischen Vlaams Belang und in Ungarn Viktor Orbans rechtsnationaler Fidesz-Partei.
Die extremeren Kräfte sind in der Fraktion Identität und Demokratie
Diese Rechtswelle dürfte am Abend des 9. Juni einen Schock in Europa auslösen – dabei ist der erwartete Zugewinn der Rechts-außen-Parteien im Parlament insgesamt überschaubar: Ihr Anteil an den Sitzen dürfte von aktuell 20 Prozent auf etwa 25 Prozent steigen, weit entfernt von einer Gestaltungsmacht. Die über 30 Rechtsparteien bilden im Parlament zudem kein einheitliches Lager, sondern liegen in vielen Fragen über Kreuz. Organisiert sind sie in zwei Fraktionen.
Die gemäßigtere, gleichwohl europaskeptische und zum Teil nationalistische Fraktion nennt sich Europäische Konservative und Reformer (EKR). Zu der zählen vor allem die rechtsnationalen Abgeordneten der polnischen PiS-Partei und die von Melonis Partei, zusammen stellen sie in der Fraktion die Hälfte der Abgeordneten. Weitere Mitglieder: die aus der Neonazi-Szene entstandenen Schwedendemokraten, die spanische Vox oder die liberal-konservative ODS in Tschechien, der auch Premier Petr Fiala angehört.
Die extremeren Kräfte sind in der Fraktion Identität und Demokratie (ID) versammelt, hier sind häufiger rassistische, homophobe und islamfeindliche Parolen zu hören: Stärkster Teil ist die nationalistische Lega Italiens von Matteo Salvini, dahinter kommen Le Pens RN und bisher die AfD. Es gehören zum Beispiel auch die österreichische FPÖ dazu, die Wahren Finnen und die separatistische Vlaams Belang. In vielen Fragen sind die ID-Mitglieder gespalten, nicht zuletzt im Verhältnis zu Putins Russland, zu dem viele noch immer enge Kontakte pflegen.
Experte: Meloni verfolgt einen „relativ proeuropäischen Kurs“
Die gemäßigte EKR-Fraktion ist dagegen mehrheitlich russlandkritisch und „nimmt in der Außen- und Sicherheitspolitik eine größtenteils konstruktive und anschlussfähige Rolle ein“, wie eine neue Studie des Berliner Thinktanks Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) bilanziert. Fraktionslos sind bisher die zwölf ungarischen Abgeordneten von Orbans nationalkonservativer Fidesz-Partei.
So wird es nicht bleiben. Orban sucht Anschluss an eine der Fraktionen, Le Pen wird die Neigung zum Wechsel zur EKR-Fraktion nachgesagt. Auch sonst laufen heimliche Vorbereitungen für eine Neusortierung am rechten Rand, möglichst weg von der Brandmauer. Das Problem für die AfD: Nicht nur Le Pen ging auf Distanz, sondern auch Lega-Chef Salvini in Italien; andere wie Meloni oder Orban hatten schon früher Abstand gehalten. Zugleich gibt es Versuche der christdemokratischen EVP, aus dem rechten Spektrum einzelne Kräfte wie Melonis Brüder Italiens herauszubrechen und auf Kooperationskurs zu bringen.
Meloni verfolge einen „relativ proeuropäischen Kurs“, wie Decker sagt, was auch der Abhängigkeit Italiens von EU-Geldern geschuldet sein dürfte. Ohne Melonis Unterstützung wäre das – von Orban und Le Pen heftig kritisierte – EU-Asylpaket gescheitert. In Brüssel wird auch anerkannt, dass Meloni rhetorisch die Ukraine unterstützt, auch wenn Italien in der Praxis wenig Hilfe leistet – diese Methode der Anschlussfähigkeit kopiert nun Geert Wilders, der in den Niederlanden gerade eine Vier-Parteien-Regierungskoalition geschmiedet hat.
„Die Unterstützung der Ukraine ist der neue Lackmustest für die Akzeptanz innerhalb der EU“, sagt der niederländische Politikwissenschaftler Cas Mudde. Wer dem Brüsseler Ukraine-Kurs zustimme, „hat mehr Spielraum, zu Hause die liberale Demokratie zu schwächen“. Da allerdings ist Le Pen – ebenso wie Orban – auf Linie der AfD: Sie hat zwar Russlands Angriff auf die Ukraine verurteilt, pflegt aber weiter eine starke Nähe zu Putin und lehnt Waffenlieferungen an die Ukraine ab. Nicht nur deswegen gibt es in Brüssel Zweifel an der Glaubwürdigkeit von Le Pens Kurswechsel. Der SPD-Europaabgeordnete Rene Repasi warnt, Le Pens Partei „frisst nur öffentlich Kreide“, um in Paris und Brüssel an die Macht zu kommen. RN und AfD seien beide gefährlich: „Beide sind Wölfe im Schafspelz“, sagt Repasi.