Brüssel/Berlin. Schock-Prognosen von EU und Wirtschaftsweisen: Deutschland ist Bremsklotz für Europas Wirtschaft. Wann geht es wieder aufwärts?

Die deutsche Wirtschaft kommt nicht in Fahrt: Der Stagnationskurs macht Deutschland weiter zum Schlusslicht in Europa, durchgreifende Besserung ist nicht in Sicht. Das zeigen die neuen Konjunkturprognosen der EU-Kommission und des deutschen Sachverständigenrats Wirtschaft, die ihre Gutachten am Mittwoch in Brüssel und Berlin vorlegten.

Nach der Frühjahrs-Prognose der EU-Kommission wird die deutsche Wirtschaft in diesem Jahr nur um 0,1 Prozent wachsen – schlechter stehen im vereinten Europa nur Estland (-0,5 Prozent) und Finnland (0 Prozent) da. Im kommenden Jahr wird Deutschland mit einem erwarteten Wachstum von einem Prozent sogar die rote Laterne in der Eurozone und EU-weit vorausgesagt. „Stagnation nach der Rezession“ nennt die EU-Kommission die Entwicklung in Deutschland und verweist auf zu geringe Investitionen und eine nur langsame Erholung der Exportwirtschaft.

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Für Deutschland kommt der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung zu einer ähnlich trüben Einschätzung: Die Wirtschaftsweisen hatten vor einem halben Jahr noch ein Wachstum von 0,7 Prozent für 2024 vorausgesagt, jetzt senken sie die Vorhersage angesichts eines enttäuschenden Jahresstarts auf nur noch 0,2 Prozent. Für 2025 erwartet der Rat ein Wachstum von 0,9 Prozent, weniger als die Bundesregierung und Forschungsinstitute bislang prognostizieren.

DIW-Experte: Wirtschaft wird 2025 Potenzial wieder voll ausschöpfen

Der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin), Marcel Fratzscher, sprach gegenüber dieser Redaktion mit Blick auf die neuen Zahlen aber nicht von „Krise“, sondern lediglich von „Stagnation“. Er äußerte sich optimistischer. Fratzscher zufolge würden mittlerweile „alle Anzeichen“ auf eine Verbesserung der wirtschaftlichen Lage in Deutschland hindeuten. Exporte stiegen und auch die Bauindustrie haben sich im ersten Quartal deutlich besser entwickelt als erwartet.

Achim Truger, Martin Werding, Monika Schnitzer, Ulrike Malmendier und Veronika Grimm (v.l.) stellen das Frühjahrsgutachten 2024 des Sachverständigenrates Wirtschaft vor.
Achim Truger, Martin Werding, Monika Schnitzer, Ulrike Malmendier und Veronika Grimm (v.l.) stellen das Frühjahrsgutachten 2024 des Sachverständigenrates Wirtschaft vor. © DPA Images | Kay Nietfeld

Hinzu komme die Aussicht auf eine sinkende Inflation, die gemeinsam mit steigenden Löhnen dafür sorgen könnte, den privaten Konsum wieder anzukurbeln, so Fratzscher. Der deutschen Wirtschaft riet er, nun schnell die ökologische und digitale Transformation zu vollziehen. „Ich erwarte, dass die deutsche Wirtschaft Ende 2025 wieder ihr volles Potenzial ausschöpfen wird“, erklärte der Wissenschaftler weiter.

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) gab am Mittwoch bei einer Veranstaltung der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK) hingegen keine konkrete Prognose ab, wann die deutsche Wirtschaft das Tal durchschritten haben könnte. „Keiner ist zufrieden, wenn die deutsche Wirtschaft stagniert“, sagte Scholz. Als Herausforderungen benannte er die Infrastrukturmodernisierung, das Senken der Energiepreise, die Fachkräftesuche und den Bürokratieabbau. „Da haben wir gemeinsam ein Dickicht aufgebaut, das wir jetzt lichten müssen“, betonte er.

Wirtschaftsweise: Mehr privater Konsum dürfte die Wirtschaft stützen

Die aktuelle wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland ist laut Gutachten der Wirtschaftsweisen von einer schwachen gesamtwirtschaftlichen Nachfrage geprägt: „Die privaten Haushalte konsumieren aktuell noch zurückhaltend, die Industrie und die Baubranche verzeichnen nur geringfügig neue Aufträge“, sagte der Wirtschaftsweise Martin Werding.

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    Immerhin werde 2024 der Welthandel und die globale Industrieproduktion zunehmen, davon würden die deutschen Exporte profitieren. Aber: „Die exportorientierten Unternehmen sehen sich mit einem scharfen Wettbewerb, steigenden Arbeitskosten und weiterhin erhöhten Energiepreisen konfrontiert“, warnte die Wirtschaftsweise Veronika Grimm. Die Teuerung in Deutschland werde sich weiter verlangsamen, der Rat sagt eine Inflationsrate von 2,4 in diesem Jahr und 2,1 Prozent im nächsten Jahr voraus.

    Arbeitsmarkt mit nachlassender Dynamik – viele Stellen unbesetzt

    Das Gutachten verweist auch auf das Problem einer nachlassenden Dynamik am Arbeitsmarkt: Die strukturellen Bedingungen hätten sich verschlechtert, da der demografische Wandel fortschreite und die durchschnittlichen Arbeitszeiten zurückgingen. Unternehmen falle es zunehmend schwer, offene Stellen zu besetzen – gleichzeitig verzichteten viele Unternehmen trotz schlechter wirtschaftlicher Lage auf Entlastungen.

    Die Perspektive ist nach Einschätzung der Wirtschaftsweisen vor allem wegen fehlender Arbeitskräfte trübe: „Die Wachstumsaussichten der Volkswirtschaft bleiben gemessen am Produktionspotenzial bis zum Ende des Jahrzehnts schwach.“ Bis 2029 dürfte das Potenzialwachstum bei 0,4 Prozent verharren.

    Ein Neubaugebiet in Gelsenkirchen: Die Bauwirtschaft in Deutschland dürfte bald wieder anziehen, sagt die EU-Kommission in ihrer neuen Konjunkturprognose voraus.
    Ein Neubaugebiet in Gelsenkirchen: Die Bauwirtschaft in Deutschland dürfte bald wieder anziehen, sagt die EU-Kommission in ihrer neuen Konjunkturprognose voraus. © imago/Rupert Oberhäuser | IMAGO/Rupert Oberhäuser

    Auch die Einschätzung der EU-Kommission klingt für Deutschland bedrohlich: Sie attestiert der Wirtschaft hierzulande einen „Verlust an Wettbewerbsfähigkeit“ vor allem energieintensiven Sektoren. Bei den Investitionen hierzulande sei nach einem jahrelangen Rückgang für 2025 wieder ein Plus in Sicht, die Bauwirtschaft werde voraussichtlich schon in der zweiten Hälfte dieses Jahres anziehen. Der CSU-Wirtschaftsexperte im EU-Parlament, Markus Ferber, sagte: „Der Umstand, dass Deutschland als größte Volkswirtschaft der EU der Bremsklotz für die wirtschaftliche Entwicklung in der Union ist, ist auch ein Armutszeugnis für die Wirtschaftspolitik der Ampel-Koalition.“

    Europaweit sieht die Kommission eine schrittweise Verbesserung der wirtschaftlichen Lage, auch durch den erwarteten weiteren Rückgang der Inflation – wobei die Hartnäckigkeit der Inflation in den USA den Brüsseler Wirtschaftsexperten Sorgen macht, weil dies dazu führen könnte, dass es erst verspätet zu Zinssenkungen komme. Zudem betont die Prognose „weiter zunehmende Abwärtsrisiken durch anhaltende geopolitische Spannungen“, vor allem im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg und dem Nahost-Konflikt.