Berlin. Wehret den Anfängen? Die Auseinandersetzung um das Überleben unserer Demokratie hat längst begonnen. Was das für uns alle bedeutet.

Fünf Wochen sind es noch bis zur Europawahl. Der Wahlkampf ist jetzt aus einem bedrückenden Anlass zum ersten Mal richtig in den Fokus gerückt. In den vergangenen Tagen mehrten sich die Berichte von Vorfällen, bei denen Politiker und Politikerinnen bei öffentlichen Auftritten bedrängt, beleidigt, bedroht und sogar körperlich angegriffen worden sind. Trauriger Tiefpunkt ist die Attacke auf den SPD-Europapolitiker Matthias Ecke, den mehrere Angreifer in Dresden auf offener Straße so schwer verprügelt haben, dass er mit Knochenfrakturen im Gesicht in ein Krankenhaus eingeliefert worden ist. Und in Berlin wurde die SPD-Wirtschaftssenatorin Franziska Giffey bei einem Angriff in einer Bibliothek am Kopf verletzt.

Was kommt da noch alles? Die Taten der vergangenen Tage sind keine Einzelfälle. Sie sind schon gar nicht mit Wahlkampf zu erklären, wenn seit jeher ein Argument schon einmal platter und die politische Auseinandersetzung in der Wortwahl gröber ausfällt. Sie sind Ausdruck tiefgreifender Fehlentwicklungen in unserer Gesellschaft.

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Attacke auf Matthias Ecke: Manche fühlen sich an Weimar erinnert

Das Jahr begann damit, dass ein Mob den Grünen-Politiker Robert Habeck nach einer Privatreise am Verlassen einer Fähre hinderte. Seitdem lassen sich zahlreiche Beispiele finden, bei denen Politikern Hass, Hetze und Schlimmeres entgegenschlug. Der Trend ist aus den vergangenen Jahren bekannt. Nicht nur mit Blick auf die Europawahl im Juni, sondern auch vor den drei Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg im September müssen wir befürchten, dass die Attacke auf Matthias Ecke kein Schlusspunkt gewesen ist.

Manche fühlen sich angesichts dieser aufgeheizten Stimmung inzwischen an die letzten Jahre der Weimarer Republik erinnert, in denen Extremisten die Demokraten nicht nur aus den Parlamenten verdrängten, sondern auch auf den Straßen Jagd auf sie machten. Man muss diese düstere Analyse nicht vollumfänglich teilen. Aber: Wir haben den Zeitpunkt bereits verpasst, an dem man aus Sorge um unsere Demokratie laut rufen muss „Wehret den Anfängen“. Wir sind mittendrin in der Auseinandersetzung um unser Zusammenleben.

Jugendlicher stellt sich nach Angriff auf SPD-Politiker
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    Chefreporter Jan Dörner.
    Chefreporter Jan Dörner. © Reto Klar | Reto Klar

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