Berlin. Die Annahme: Werden Länder wohlhabender, nehmen Toleranz und Offenheit zu. Doch viele Staaten folgen diesem westlichen Vorbild nicht.
Gemeinsame Welt, gemeinsame Werte? Von wegen! Tatsächlich nehmen die Unterschiede zwischen den Wertvorstellungen westlicher und anderer Gesellschaften einer Studie zufolge immer weiter zu. Zwar seien sich viele Länder in den vergangenen 40 Jahren im Zuge von Globalisierung, Massenmedien und der Verbreitung von Technologien in vielen Aspekten immer ähnlicher geworden – kulturelle würden aber nicht zwingend dazuzählen. Das sei das Ergebnis wiederholter Umfragen unter rund 400.000 Menschen in 76 Ländern.
Große Unterschiede bei Themen Toleranz und Offenheit
Groß sind die Unterschiede demnach vor allem bei Toleranz und Offenheit. In diesen Bereichen würden sich die Wertevorstellungen auf verschiedenen Kontinenten auseinanderentwickeln – innerhalb von Kontinenten wurden sie dagegen ähnlicher. Die Daten zeigen auch, dass sich die Wertorientierungen westlicher Länder mit hohem Einkommen besonders von denen anderer Länder unterscheiden.
Damit zeigt sich: Die Theorie, dass mit zunehmender Modernisierung und ökonomischem Wohlstand weltweit verstärkt liberale, individualistische Werte, die persönliche Rechte und Freiheiten betonen, übernommen werden, trifft in vielen Fällen nicht zu. Insbesondere in asiatischen und afrikanischen Ländern ist der Zusammenhang zwischen Wohlstand und freiheitlichen Werten viel weniger ausgeprägt als im Westen, wie die Studie zeigt. Die zunehmende Wertekluft könne Konsequenzen für die politische Polarisierung und internationale Konflikte haben, warnt das Forschungsduo Joshua Conrad Jackson und Danila Medvedev.
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Unterschiedliche Werte: Gesellschaftliche Konflikte drohen
„Wenn die kulturellen Differenzen bei Einstellungen und Werten zunehmen, die religiöse Intoleranz wächst und gleichzeitig die Bereitschaft zur Kooperation in wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Fragen abnimmt, dann können Konflikte innergesellschaftlich oder auch zwischen Gesellschaften stark zunehmen, bis hin zu militärischen Auseinandersetzungen“, erklärte Roland Verwiebe von der Universität Potsdam, der selbst nicht an der Studie beteiligt war, der Deutschen Presse-Agentur (dpa).
Das Autorenduo aus Chicago hatte Daten des World Values Survey zwischen 1981 und 2022 ausgewertet. Erfasst wurden kulturelle Unterschiede bei 40 Werten, verbunden etwa mit Offenheit, Gehorsam und Glauben. Demnach gibt es große Differenzen etwa bei der Beurteilung, wie wichtig es ist, Kinder religiöse Überzeugungen zu lehren und sie zu Gehorsam zu erziehen.
Auch bei anderen Aspekten entwickelten sich westliche Länder und andere Staaten deutlich auseinander: Während Menschen in Australien und Pakistan zum Beispiel vor Jahrzehnten Scheidungen gleichermaßen für nicht vertretbar hielten, haben sich ihre Ansichten in entgegengesetzte Richtungen entwickelt, wie Jackson und Medvedev erläutern. Eine ähnliche Entwicklung habe es beim Wert des Gehorsams von Kindern gegeben.
Freiheit und Demokratie unter Druck
Die Entwicklung von Wohlstand bedeute nicht automatisch eine Angleichung von Werten, so die Forschenden. Er sei beispielsweise in Hongkong und Kanada zwischen 2000 und 2020 ähnlich gestiegen, die Akzeptanz von Homosexualität habe aber in Kanada schneller zugenommen. Auf hohe Leistungsbereitschaft von Kindern werde in Kanada inzwischen weniger, in Hongkong hingegen deutlich mehr Wert gelegt.
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Insgesamt hätten sich neue Spaltungslinien zwischen westlich geprägten, sehr wohlhabenden europäischen Ländern einerseits und asiatischen sowie afrikanischen Staaten andererseits herausgebildet. Zudem gebe es eine weitere wesentliche Entwicklung: „Die liberalen Demokratien europäischer Prägung befinden sich weltweit zunehmend in der Defensive; in Teilen nimmt ihre Akzeptanz auch in stark demokratisch geprägten Gesellschaften deutlich ab, etwa in den Niederlanden, Frankreich, den USA und Deutschland.“