Ankara/Athen. Der türkische Staatschef kündigt seinen Rückzug aus der Politik an. Wer ihm nachfolgt, ist noch offen. Aber es gibt einen Favoriten.

Seit 22 Jahren bestimmt er die Geschicke der Türkei, zuerst als Premierminister und seit 2014 als Staatspräsident. Jetzt denkt Recep Tayyip Erdogan offenbar über einen Abschied vom höchsten Staatsamt nach. Bei einer Kundgebung zur Kommunalwahl am 31. März sagte Erdogan am Wochenende in Istanbul, dies sei sein „letzter Wahlkampf“. Die Kommunalwahl sei der „Übergang des Vertrauens an meine Brüder, die nach mir kommen“. Erdogan wurde kürzlich 70. Schon vor der Präsidentenwahl im vergangenen Jahr hatte er angekündigt, er trete zum letzten Mal an und werde „die heilige Fahne an die Jugend weitergeben“.

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Das war insofern keine Überraschung, weil Erdogan nach der Verfassung gar nicht für eine weitere Amtszeit kandidieren kann. Politische Beobachter in Ankara bleiben dennoch skeptisch, ob er sich wirklich zurückziehen will.

Recep Tayyip Erdogan: Vom Reformer zum Autokrat

Seit dem Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk, der das Land von 1923 bis 1938 geführt hatte, hat kein Politiker die moderne Türkei so geprägt wie Erdogan. Er hinterlässt allerdings ein widersprüchliches Erbe. In seinen ersten Jahren als Premierminister ebnete Erdogan mit innenpolitischen Reformen und der Entmachtung der Militärs den Weg zu Beitrittsverhandlungen mit der EU. Sie wurden 2005 aufgenommen, kamen aber schnell wieder zum Stillstand. Denn der einstige Reformer Erdogan legte immer autoritärere Züge an den Tag.

Erdogan deutet
Erdogan deutet "Finale" seiner Amtszeit an

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    Er schränkte demokratische Rechte ein, drangsalierte die Medien und gängelte die Justiz. Vor allem seit den landesweiten Massenprotesten im Frühjahr 2013 verfolgte Erdogan seine Kritiker unnachsichtig. Nach dem Putschversuch vom Juli 2016 wurden über 100.000 als illoyal geltende Staatsbedienstete entlassen, Zehntausende Regierungskritiker landeten hinter Gittern. Mit der Verfassungsreform von 2018 verschaffte sich Erdogan eine Machtfülle, wie sie kein anderer westlicher Staats- oder Regierungschef besitzt.

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    Auch wirtschaftlich ist die Bilanz der Ära Erdogan durchwachsen: In seinen ersten zehn Regierungsjahren verdreifachte sich das Pro-Kopf-Einkommen, die Türkei stieg in den Klub der G-20 auf, der 20 größten Wirtschaftsnationen. Aber seit Erdogan in den 2020er Jahren immer mehr Einfluss auf die Geldpolitik nahm, geriet das Land in eine schwere Währungskrise. Investoren zogen sich zurück.

    Einen möglichen Nachfolger hat Erdogan demonstrativ kaltgestellt

    Mit der zunehmenden Islamisierung von Staat und Gesellschaft und der Demontage demokratischer Grundrechte entfernte Erdogan sein Land in den vergangenen Jahren vom Westen. Er provozierte die Nato-Partner, weil die Türkei als einziges Land der Allianz die Sanktionen gegen Russland nicht mitträgt und die Aufnahme Schwedens in das Bündnis über ein Jahr lang blockierte.

    Erdogan unterstützt die islamistische Terrororganisation Hamas als „Befreiungsbewegung“. Aber trotz wachsender Distanz zum Westen ist die geostrategische Bedeutung der Türkei für die USA und Europa vor dem Hintergrund des Ukraine-Krieges und des wachsenden Migrationsdrucks in den vergangenen Jahren eher gewachsen. Das weiß Erdogan, und er nutzt es aus, etwa beim Poker um die Lieferung von US-Kampfflugzeugen.jt

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    Erdogan herrscht wie ein Autokrat. Auch die Entscheidung, wer ihm nachfolgt, wird er nicht seiner Partei überlassen, sondern selbst treffen. Einen möglichen Nachfolger hat Erdogan nach seiner Wiederwahl im vergangenen Jahr demonstrativ kaltgestellt: Innenminister Süleyman Soylu, ein rechtsextremer Hardliner, der Interesse am Parteivorsitz und der Präsidentschaft erkennen ließ, musste das Kabinett verlassen. Soylu hatte in den vergangenen Jahren alle Schaltstellen im türkischen Sicherheitsapparat mit treuen Gefolgsleuten besetzt. Der in die Emirate geflohene Mafiaboss Sedat Peker enthüllte auf YouTube angebliche Verbindungen des Innenministers zum organisierten Verbrechen. Soylu war damit Erdogan offenbar zu mächtig geworden. Seine Ambitionen auf die Erdogan-Nachfolge waren aber wohl ohnehin eine Illusion. Denn eines gilt als sicher: Die Macht muss in der Familie bleiben.

    Der „Herr der Drohnen“ zeigt Interesse an einem Wechsel in die Politik

    Ende 2013 nahm die türkische Justiz im Zug von Korruptionsermittlungen nicht nur mehrere Minister ins Visier, sondern auch die Familie Erdogan. Die Ermittlungen wurden schnell niedergeschlagen, die beteiligten Beamte versetzt oder entlassen. Aber seither kommen immer wieder Vorwürfe über finanzielle Unregelmäßigkeiten hoch. So behauptet der nach Griechenland geflohene ehemalige Erdogan-Vertraute Ali Yesildag, 2007 habe der damalige Premier bei der Privatisierung des Flughafens von Antalya eine Milliarde Dollar als „Provision“ abgesahnt. Erdogan muss fürchten, dass solchen Anschuldigungen nachgegangen wird, wenn er seine strafrechtliche Immunität als Präsident verliert. Das macht es für ihn so wichtig, wer sein Nachfolger wird.

    Lange galt Schwiegersohn Berat Albayrak als Kronprinz. Er ist mit Erdogans Tochter Esra verheiratet. Erdogan berief ihn 2018 zum Finanzminister. Aber Albayrak scheiterte in dem Amt kläglich und trat nach zwei Jahren „aus Gesundheitsgründen“ zurück.

    Erdogans Tocher Sumeyye und ihr Mann, Selcuk Bayraktar.
    Erdogans Tocher Sumeyye und ihr Mann, Selcuk Bayraktar. © AFP | ADEM ALTAN

    Jetzt kommt ein weiterer Erdogan-Schwiegersohn als möglicher Nachfolger ins Spiel: Selcuk Bayraktar, Vorsitzender und Cheftechniker des Rüstungsunternehmens Baykar, das sich weltweit mit der Herstellung von Kampfdrohnen einen Namen gemacht hat. Der 44-jährige, in den USA ausgebildete Ingenieur, verheiratet mit der Erdogan-Tochter Sümeyye, personifiziert für viele Menschen den Aufstieg der Türkei zu einer Hightech-Nation. Er ist populär. Rund drei Millionen Menschen folgen ihm auf X, vormals Twitter. Bayraktar hat auch den richtigen islamischen Stallgeruch: Sein Vater war ein Vertrauter des Islamistenführers und Erdogan-Mentors Necmettin Erbakan.

    Der „Herr der Drohnen“, wie ihn Medien nennen, zeigt bereits Interesse an einem Wechsel in die Politik: „Wenn es nötig ist, werde ich mich nicht drücken“, sagte er in einem Interview. Jetzt hängt alles davon ab, ob der Ruf des Schwiegervaters an ihn ergeht. Aber bis 2028 kann noch viel passieren. Vielleicht kommt Erdogan bis dahin zu der Ansicht, dass sein Land ihn länger braucht. Wenn er die Verfassung ändert oder ignoriert, könnte er für eine weitere Amtszeit kandidieren.