Berlin. So viel Unruhe wie jetzt habe es noch nie gegeben, meinen viele. Dabei ist die Geschichte der Nachkriegszeit auch eine des Protests.

Streikende Lokführer legen den Zugverkehr still, Bauern blockieren mit ihren Treckern die Straßen, Hunderttausende ziehen gegen die AfD und ihr Gedankengut durch die Städte. Deutschland im Januar 2024 – ein Land in Aufruhr? So viel Unruhe habe es noch nie gegeben, meinen viele. Aber stimmt das?

Ein Blick in die Geschichte der Bundesrepublik und auch der DDR zeigt, dass die Deutschen in den Jahrzehnten nach 1945 eine beachtliche Protestkultur entwickelt haben, die das Land immer wieder in Phasen erheblicher Unruhe geführt hat. Gleichzeitig kann man diese Tradition aber auch als Ausdruck einer lebendigen, demokratischen Bürgergesellschaft verstehen.

Bundesweit Zehntausende Teilnehmer bei Demonstrationen gegen rechts
Bundesweit Zehntausende Teilnehmer bei Demonstrationen gegen rechts

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    Schon 1953 reichte einem erheblichen Teil der DDR-Bevölkerung die Gängelung durch die SED. Die Massendemonstrationen der Arbeiter um den 17. Juni brachten das Regime an den Rand des Sturzes. Nur die Panzer der Roten Armee vermochten Ruhe und Ordnung im Sinne der DDR-Führung wiederherzustellen und die Protestbewegung zu unterdrücken. Der Preis war hoch. Mindestens 34 Demonstranten und Passanten wurden erschossen, fünf Männer der DDR-Sicherheitsorgane wurden getötet, sieben Teilnehmer an den Aktionen hingerichtet.

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    Derweil arbeitete die Regierung von Konrad Adenauer daran, die Integration der Bundesrepublik in das westliche Bündnis voranzutreiben. Das bedeutete vor allem: Wiederbewaffnung und Teilhabe an den Atomwaffen der Nato-Partner. Es bildete sich eine breite Widerstandsbewegung gegen die Pläne der Bundesregierung. Eine von der SPD, dem DGB und pazifistischen Gruppen im März 1958 angeregte Kampagne „Kampf dem Atomtod“ führte in den darauffolgenden Wochen zu großen Demonstrationen. Gegen den Beschluss protestierten dann mehr als 100.000 Menschen auf einer Demonstration am 17. April 1958 in Hamburg.

    Deutschland hat nach 1945 eine Protestkultur entwickelt

    Zehn Jahre später erschütterten die Studentenunruhen das Land, die sich auch mit Protesten gegen den Vietnamkrieg verbanden. Auslöser schwerer Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Polizisten war der Schah-Besuch am 2. Juni 1967 in Berlin, in deren Verlauf der Student Benno Ohnesorg von einem Polizisten erschossen wurde. Im folgenden Jahr wurde der Wortführer der Proteste, Rudi Dutschke, auf dem Kurfürstendamm angeschossen. Aufgebrachte Studenten versuchten, die Auslieferung der Zeitungen des Axel-Springer-Konzerns wie „Bild“ zu verhindern, manche Lieferwagen wurden in Brand gesetzt.

    Gegen die in Bonn regierende Große Koalition bildete sich aus der Studentenbewegung heraus die „Außerparlamentarische Opposition“ (APO), die vor allem gegen die geplanten Notstandsgesetze mobilisierte, mit denen die Grundrechte im Falle eines „inneren Notstands“ eingeschränkt wurden. Als die Abgeordneten am 30. Mai 1968 zur Abstimmung zusammenkamen, riegelten hunderte Beamte der Bereitschaftspolizei, Absperrgitter und Wasserwerfer das Regierungsviertel am Rhein ab.

    Gegen die atomare Aufruestung und die Stationierung von Mittelstreckenraketen gingen am 10. Oktober 1981 rund 300.000 Menschen in Bonn auf die Strasse. Es war die erste Grossdemonstration dieser Art in der Bundesrepublik.
    Gegen die atomare Aufruestung und die Stationierung von Mittelstreckenraketen gingen am 10. Oktober 1981 rund 300.000 Menschen in Bonn auf die Strasse. Es war die erste Grossdemonstration dieser Art in der Bundesrepublik. © epd | Hartwig Lohmeyer

    Ab Ende der 1970er Jahre entwickelte sich vor dem Hintergrund der geplanten „Nachrüstung“ der Nato eine neue Friedensbewegung. „Wir treten ein für ein atomwaffenfreies Europa“ lautete der Aufruf, unter dem sich am 10. Oktober 1981 über 300 000 Demonstranten am Bonner Hofgarten versammelten. Es war die bis dahin größte politische Kundgebung in der Geschichte der Bundesrepublik. Außerdem zogen in jenen Jahren regelmäßig Hunderttausende bei den Ostermärschen mit pazifistischen Parolen durch das ganze Land – 700 000 wurden 1983 gezählt.

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    Demonstrationen der letzten Wochen haben Vorbilder in der jüngeren Geschichte

    Der Plan des Krupp-Konzerns, das Stahlwerk Rheinhausen zu schließen, löste im Herbst 1986 massive Proteste der Beschäftigten und schließlich der ganzen Region aus. Der Kampf um Rheinhausen wurde zum Symbol für Protest gegen den Strukturwandel im Ruhrgebiet. Am 2. Dezember 1987 riegelten mehrere tausend Stahlarbeiter die Rheinbrücke Rheinhausen-Hochfeld ab und legten damit den Verkehr in großen Teilen des Ruhrgebietes lahm. Hinzu kamen die Blockade der A40 und die Besetzung der Krupp-Zentrale in Essen.

    Mindestens 300 000 Menschen demonstrieren am 6.12.1992 in München mit brennenden Kerzen, Fackeln und Lampions gegen rechtsradikale Ausschreitungen und Fremdenhass. Die Demonstranten bilden eine 40 Kilometer lange Kette durch die Stadt.
    Mindestens 300 000 Menschen demonstrieren am 6.12.1992 in München mit brennenden Kerzen, Fackeln und Lampions gegen rechtsradikale Ausschreitungen und Fremdenhass. Die Demonstranten bilden eine 40 Kilometer lange Kette durch die Stadt. © picture-alliance / dpa | db

    Zur gleichen Zeit erschütterten massive Proteste gegen den Bau von Atomanlagen die Bundesrepublik. Die gewaltsamen Auseinandersetzungen um die in Wackersdorf geplante Wiederaufbereitungsanlage führten schließlich zum Aus für das Projekt. Aus dieser Umweltbewegung entstand die Partei der Grünen.

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    Im Herbst 1989 reihten sich die DDR-Bürger wieder in die deutsche Protestbewegung ein. Mit ihren Montagsdemonstrationen in vielen Städten Ostdeutschlands protestierten hunderttausende Bürger gegen die politischen Verhältnisse und für mehr Demokratie in ihrem Land. Es ging unter der Parole „Wir sind das Volk“ um Reformen, Reisefreiheit, Mitspracherecht mit dem Ziel einer demokratischen Neuordnung der DDR. Später kam mit dem Ruf „Wir sind ein Volk“ der Wunsch nach Vereinigung mit der Bundesrepublik hinzu.

    Mit der Wiedervereinigung erlebten allerdings auch Rechtsextremismus und Ausländerhass einen Aufschwung in Deutschland. Es gab Anschläge auf Asylbewerberunterkünfte und im August 1992 ein Pogrom gegen ein Ausländerheim in Rostock-Lichtenhagen. Am 6. Dezember versammelten sich 400 000 Menschen mit Kerzen in der Münchener Innenstadt, um gegen Ausländerfeindlichkeit und Rechtsextremismus zu protestieren. Die Massenkundgebungen der letzten Wochen gegen solche Entwicklungen haben also Vorbilder in der jüngeren Geschichte.

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