Ein Gigant der Geopolitik: Zum Tode Henry Kissingers
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Washington. Der frühere US-Außenminister und Friedensnobelpreisträger starb in seinem Haus in Connecticut. Geboren wurde er im fränkischen Fürth.
Lebende Legende. Der erste Popstar der Weltpolitik. Rätselhafte Sphinx. Brillanter Stratege. Schurke mit Hornbrille. Das Dumme an diesen Worthülsen ist, dass sie bei Henry Kissinger immer alle einigermaßen stimmten.
Der bekannteste, einflussreichste und meistgehasste US-Außenminister aller Zeiten war seit über 45 Jahren außer Dienst. Aber noch immer ein weltweit blendend vernetzter Gigant des geopolitischen Schachspiels. Bis Mittwochabend.
Da meldete seine Beratungsfirma, dass der im vergangenen Mai 100 Jahre alt gewordene Welterklärer in seinem Haus im Bundesstaat Connecticut gestorben ist. „Mit dem Ableben von Henry Kissinger hat Amerika eine seiner verlässlichsten und markantesten Stimmen der Außenpolitik verloren“, kondolierte der frühere US-Präsident George W. Bush.
Kissinger wird in den nächsten Tagen im engsten Familienkreis beigesetzt. Später soll in New York eine große Gedenkfeier mit ausländischen Staatsgästen folgen.
Zum Tod von Henry Kissinger: Sein Leben in Bildern
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Die Spielvereinigung Greuther Fürth hatte es Kissinger angetan
Trotz seines siechen Körpers – er war auf einem Auge längst blind und des aufrechten Gangs ohne Gehstock kaum mehr fähig – gab ein präziser, scharfsinnige und druckreife Einschätzungen produzierender Geist Henry Kissinger bis zuletzt täglich die Sporen.
Kurz vor seinem Ehrentag im Frühsommer wurde er gefragt, ob Wladimir Putin oder Xi Jinping heute noch seinen Telefonanruf entgegennehmen würden. Kissinger entgegnete ohne jede Selbstironie: „Das ist sehr gut möglich.“
Heinz Alfred Kissinger kam am 27. Mai 1923 im mittelfränkischen Fürth zur Welt, wo ihn die Fußball-Spielvereinigung Greuther bis heute bewegt. Vater Louis war dort Lehrer am Lyzeum. 1938 flüchtete die jüdische Familie vor den Nazis nach Amerika. Genauer nach Washington Heights, ein damals deutsch-jüdischer Stadtteil von New York City. Elf andere Mitglieder der Familie kamen in Konzentrationslagern um.
Henry A., wie er sich bald nennt, ging zur Highschool, lernte Englisch, ohne seinen knarzigen deutschen Akzent loszuwerden, und jobbte in einer Rasierpinselfabrik. 1943 wurde er amerikanischer Staatsbürger. Er kämpfte mit der US-Armee in den Ardennen gegen Hitlerdeutschland. 1947 dann die Rückkehr in die USA. Kissinger wurde an der Elite-Universität Harvard in den 60er-Jahren zum Fixpunkt und Professor. Kissinger dachte viel und lang. Und er schrieb noch länger. „A World Restored“, seine Doktorarbeit über Gleichgewichtspolitik, den Wiener Kongress und dessen Leitfiguren, Österreichs Staatskanzler Fürst Metternich und den britischen Außenminister Castlereagh, hatte an die 400 Seiten.
„Nächste Woche kann es keine Krise geben. Mein Terminkalender ist schon voll.”
Von Harvard aus startete er, der Parteiungebundene, eine beispiellose Karriere, die ihn zu einem der mächtigsten Mitentscheider der Vereinigten Staaten machen sollte. Typisches Bonmot: „Nächste Woche kann es keine Krise geben. Mein Terminkalender ist schon voll.“
Als Sicherheitsberater und Außenminister der Präsidenten Richard Nixon und Gerald Ford gestaltete Kissinger Weltgeschehen. Realpolitik war seine Maxime, Pendeldiplomatie sein Instrument, Geheimniskrämerei sein Prinzip. Kissinger betrachtete die Welt durch das Prisma eines Machtmenschen, der über Leichen ging, wenn es denn Amerika frommt.
Allein, die Öffentlichkeit und die Kontrolleure in den Parlamenten sollen sich doch bitte schön heraushalten aus dem diffizilen Geschäft um Macht und deren Austarierung. Diplomatie ist etwas für Einzelkenner, fand Kissinger bis zuletzt und erklärte seine schillernde Popularität so: „Ich habe immer allein gehandelt. Amerikaner lieben einen Cowboy, der einsam auf seinem Pferd reitet.”
An die 20 Bücher hat Kissinger geschrieben. Trotzdem blieb er ein Enigma. Das meiste aus der heißen Phase seines Wirkens ist unter Verschluss. Kissinger hatte die sensiblen Akten bis fünf Jahre nach seinem Tod sperren lassen. Das Rennen um diese Memoiren wird nun losgehen.
Für Richard Nixon fädelte Kissinger die ersten Kontakte zwischen Washington und Pekings Mao ein. Das sollte – mitten im Kalten Krieg – die Sowjets unter Druck setzen. Dass er einmal öffentlich allerhöchsten Respekt vor der 4000 Jahre alten chinesischen Kultur bekundete, wird bis heute in China erinnert.
1973 handelte Kissinger – viel später als nötig und möglich – den Vietnam-Friedensvertrag aus. Kissinger bekam dafür gegen lautstarke Proteste weltweit den Friedensnobelpreis. Kurz danach trug sein rastloses Engagement im Nahen Osten zum Ende des Jom-Kippur-Kriegs bei. Später verhandelte er das erste Rüstungsbegrenzungsabkommen mit Moskau, den SALT-Vertrag. Auch die Fortführung der Entspannungspolitik und der Abrüstungsverhandlungen mit der Sowjetunion trägt Kissingers Handschrift. So weit, wenn man das so sagen will, die Pluspunkte.
Dagegen steht Kissingers Rolle als Konfliktverschärfer bei der geheimen Flächenbombardierung Kambodschas, die nach jüngsten Erkenntnissen 150.000 Menschenleben kostete. Auch für die Beteiligung der US-Geheimdienste am Putsch gegen den chilenischen Sozialisten Salvador Allende 1973 und bei der Unterstützung der Militärdiktatur in Argentinien soll Kissinger Menschenrechte mit Füßen getreten haben.
Von der Invasion der Griechen auf Zypern, der indonesischen Invasion in Osttimor und dem Putsch in Pakistan soll hier nur kursorisch die Rede sein. Christopher Hitchens, der wortgewaltige britische Schriftsteller, forderte mehr als einmal: „Henry Kissinger gehört vor Gericht.”
Kissinger fand, dass Wladimir Putin nicht die alleinige Schuld am Krieg in der Ukraine trägt
Dass Kissinger bis kurz vor seinem Tod dünnhäutig und arrogant auf Zweifel und Kritik reagierte, bekam zuletzt die US-Reporterikone Ted Koppel zu spüren, der ihn ein halbes Jahrhundert lang beruflich betreut hatte. Auf die Frage, welche Verantwortung er für das massenhafte Sterben in Kambodscha trage, setzte Kissinger vor wenigen Monaten den kältesten seiner Blicke auf. Dann beschwerte er sich vor laufender Kamera darüber, dass in einem Interview, in dem es um ihn und seinen 100. Geburtstag gehen sollte, historisch nachgekartet wurde.
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Lieber sprach Henry Kissinger über das Hier und Jetzt. Einer seiner letzten Sätze war der, dass Wladimir Putin nicht allein am Krieg in der Ukraine schuld sei. Wer denn noch? Kissinger hüllte sich in Schweigen.
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