Jerusalem/Berlin. Bei einem Angriff auf ein Flüchtlingslager gibt es viele Opfer. Die Verzweiflung der Menschen in Gaza wächst. Israel verteidigt sich.

Nach dem schweren israelischen Luftangriff gleicht das Flüchtlingslager Dschabalia im nördlichen Gazastreifen einer Trümmerwüste. Wie und wo ist die Attacke abgelaufen? Wie schlimm ist die Situation für die betroffenen Menschen? Kommen Hilfsgüter an und wie viele Opfer gibt es? Die Antworten auf die wichtigsten Fragen.

Was sieht es jetzt dort aus?

Ein tiefer Krater zieht sich durch das Flüchtlingslager in Dschabalia im nördlichen Gazastreifen. Menschen graben nach Verschütteten. Das Camp gehört zu den am dichtesten besiedelten Gebieten in der Küsten-Enklave. Auf einer Fläche, die kleiner ist als der Englische Garten in München, leben 116.000 Menschen. Israels Armee hatte einen Teil des Flüchtlingscamps in den Abendstunden des Dienstags bombardiert, weil sie dort Hamas-Kämpfer identifiziert hatte. „Für unsere Erstversorger war es extrem schwer, an die Verwundeten heranzukommen“, erzählt Nabal Farshak von der Rettungsorganisation Roter Halbmond in Gaza in einem Telefoninterview mit unserer Redaktion. „Die Zerstörung war massiv.“

Was sagen die Palästinenser?

Die Angaben zu den Opferzahlen variieren. Während die islamistische Terrororganisation Hamas von 400 Getöteten und Verwundeten spricht, heißt es von Mitarbeitern der palästinensischen Gesundheitsbehörden, mindestens 50 Palästinenser seien getötet worden und mindestens weitere 150 verwundet. Nach Angaben des bewaffneten Flügels der Hamas sind sieben zivile Geiseln getötet worden. Darunter seien drei mit ausländischem Pass, teilen die Qassam-Brigaden mit. Die Hamas dementiert, dass bei den Angriffen einer ihrer ranghohen Kommandeure ums Leben gekommen sei. Sie wirft Israel vor, gezielt Zivilisten anzugreifen.

Eine verletzte Palästinenserin wird vom Al-Ahli-Baptist-Krankenhaus weggetragen.
Eine verletzte Palästinenserin wird vom Al-Ahli-Baptist-Krankenhaus weggetragen. © picture alliance / Anadolu | Ali Jadallah

Für die Krankenhäuser in Gaza bedeutet der Schlag auf Dschabalia „eine einzige Überforderung“, sagt Farshak vom Roten Halbmond. „Binnen weniger Minuten wurden Hunderte Patienten eingeliefert.“ Das Bombardement ruft auch bei der israelischen Menschenrechtsorganisation B’Tselem Entsetzen hervor. „Ganze Familien wurden von einem Moment auf den anderen ausgelöscht“, heißt es in einer Mitteilung. „Nicht alles ist in einem Krieg erlaubt, und das schließt den Krieg gegen die Hamas mit ein.“

Was sagen die Israelis?

Die israelischen Streitkräfte erklären, sie hätten in Dschabalia „mehrere Dutzend Hamas-Terroristen“ identifiziert, die sich in und unter einem mehrstöckigen Gebäude verbarrikadiert haben sollen. Rund 50 Terroristen seien getötet worden. Das Gebäude habe sich in der Nähe einer Schule, einer Klinik und eines Regierungsgebäudes befunden. Bei dem Luftangriff sei es gelungen, Ibrahim Biari zu töten. Biari sei als Kommandant „führend an Planung und Ausführung der Attacken vom 7. Oktober“ beteiligt gewesen, sagt Armeesprecher Jonathan Conricus.

Zerstörtes Wohnhaus im Flüchtlingslager Dschabalia am Rande von Gaza-Stadt.
Zerstörtes Wohnhaus im Flüchtlingslager Dschabalia am Rande von Gaza-Stadt. © DPA Images | Fadi Majed

Biari habe die „Zentrale Dschabalia-Brigade“ geleitet, die im Flüchtlingslager stationiert gewesen sei, betonen die israelischen Streitkräfte. Die Brigade sei der Hamas angegliedert. Biari habe in den vergangenen Jahrzehnten zahlreiche Terrorattacken auf Ziele in Israel koordiniert. So hätten im Jahr 2004 Hamas-Kämpfer im Hafen der israelischen Stadt Ashdod nördlich des Gazastreifens einen Terroranschlag verübt, bei dem 13 Menschen getötet wurden.

Wie leidet die Zivilbevölkerung?

Israel hatte die Bewohner im Norden des Gazastreifens aufgefordert, sich in den Süden zu begeben. Zwar sind viele Menschen dieser Aufforderung gefolgt. Es sollen sich aber immer noch rund 300.000 Menschen im Norden befinden. „Viele können gar nicht weg“, sagt Farshak vom Roten Halbmond. „Selbst die, die das große Glück haben, ein Auto zu besitzen, können nicht fahren, weil es keinen Treibstoff gibt.“

Andere wiederum hätten Angst, sich auf den Weg zu machen, weil sie fürchten, unterwegs beschossen zu werden. Sie harren in einer der Schulen oder einem der Krankenhäuser aus. Allein im Al-Kuds-Krankenhaus in Gaza-Stadt, das rund 500 Patienten versorgt, hätten sich rund 14.000 Menschen einquartiert, sagt Farshak. „Sie schlafen auf den Gängen.“ Das Klinikpersonal teile sich die Ausstattung mit Patienten und Binnenflüchtlingen. „Man wartet vier bis fünf Stunden, um auf die Toilette zu gehen.“

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    Auch jenen Menschen, die sich bereits in den Süden begeben haben, wird die akute Unterversorgung zur Qual. „Ich fühle mich dem Tod näher als dem Leben“, sagt Walid (Name d. Red. bekannt, Anm.), ein Palästinenser aus Gaza-Stadt, der vor zwei Wochen nach Chan Younis im südlichen Teil des Gazastreifens geflüchtet ist.

    Wie viele Hilfsgüter kommen in den Gazastreifen?

    Was an Hilfsgütern in den Gazastreifen fließt, sei „nur ein Rinnsal angesichts des stark ansteigenden Bedarfs“, erklärt der Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisation WHO, Tedros Adhanom Ghebreyesus. Der Konflikt begann am 7. Oktober, die erste Lieferung an Erste-Hilfe-Material kam erst am 21. Oktober, so Ghebreyesus. Es fehle an wichtigen Hilfsmitteln zur Versorgung von Wunden und an Medizin für chronische Patienten. Die WHO fordert „eine sichere Bewegung für humanitäre Konvois durch den Gazastreifen“ und „eine sofortige humanitäre Pause“.

    In Dschabalia inspizieren die Menschen die Schäden an den Gebäuden.
    In Dschabalia inspizieren die Menschen die Schäden an den Gebäuden. © DPA Images | Abdul Qader Sabbah

    Israel schließt das kategorisch aus. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu sagt, Israel habe den Krieg nicht begonnen, werde ihn aber gewinnen. Der Kampf gegen die Hamas sei ein Krieg „zwischen Zivilisation und Barbarei“. Eine Waffenruhe wäre nichts anderes als „eine Kapitulation vor der Hamas“.

    Wer kann aus dem Gazastreifen ausreisen?

    In der Nach zum Mittwoch gelang ein humanitärer Durchbruch in den Verhandlungen zwischen Ägypten, Israel und der Hamas. Erstmals dürfen Verwundete und Doppelstaatler den Gazastreifen Richtung Ägypten verlassen. Mehrere Hundert ägyptische Grenzbeamte sind laut BBC am Grenzübergang Rafah stationiert, um die Ausreise abzuwickeln.

    Von dort aus werden zuerst mehr als 80 verletzte Palästinenser in ägyptische Krankenhäuser verlagert. Danach wird mit der Evakuierung von rund 500 Palästinensern mit ausländischem Pass begonnen. Unbestätigten Angaben zufolge könnte Rafah auch in den kommenden Tagen für weitere Ausländer geöffnet werden. Insgesamt sollen sich derzeit bis zu 10.000 Palästinenser mit einem ausländischen Pass in Gaza befinden, darunter rund 500 Menschen mit deutscher Staatsbürgerschaft.

    Unter dem ersten Schub an evakuierten Ausländern sollen sich aber nur drei Deutsche befinden. Es handelt sich nach Angaben der palästinensischen Grenzbehörde um drei humanitäre Helferinnen. Der Großteil seien Jordanier, Österreicher und Japaner, heißt es. Bis zum frühen Mittwochnachmittag waren rund 120 der 500 Ausländer nach Ägypten transportiert worden.

    Wie hoch ist die Gesamtzahl der zivilen Opfer?

    Die Zahl der zivilen Opfer im Gazastreifen sei „erschreckend“, sagt WHO-Chef Ghebreyesus. Laut palästinensischen Angaben, die auch von den Vereinten Nationen übernommen werden, sind in den dreieinhalb Wochen seit Beginn des Krieges bereits mehr als 8500 Menschen getötet worden, darunter 3450 Kinder.