Jerusalem. Shaked Haran vermisst seit dem Überfall auf einen Kibbuz Eltern, Schwester, Nichte und Neffen. Sie hofft nun auf Druck aus Berlin.

Nach und nach werden neue Fälle von Deutschen bekannt, die seit dem brutalen Überfall der Hamas Samstagmorgen in Israel vermisst werden. Die 33-jährige Shaked Haran aus Beersheva befürchtet, dass nahezu ihre gesamte Familie verschleppt wurde. Vier von ihnen sind Deutsche, wie sie selbst.

Shaked Harans Wurzeln liegen in Stuttgart. Ihr Großvater lebte dort, bevor seine Familie vor den Nazis flüchten musste. Im damaligen Palästina fanden sie Zuflucht. Shakeds Mutter Shoshan hat ebenfalls die deutsche Staatsbürgerschaft, ebenso wie ihre Schwester Adi und deren zwei Kinder, der achtjährige Nave und der dreijährige Yael. Die Familie lebt zusammen mit Shakeds Vater im Kibbuz Beeri, der knapp neun Kilometer von Gaza entfernt ist.

Seit dem Überfall der Hamas auf den Kibbuz fehlt nicht nur von ihrer Mutter, ihrer Schwester und den Kindern jede Spur. Auch ihr Vater, zwei Tanten und ein Onkel – sie sind keine deutschen Staatsbürger – wurden offenbar verschleppt.

Tal und Adi mit ihren Kindern Nave und Yael.
Tal und Adi mit ihren Kindern Nave und Yael. © privat | Privat

Die letzte Nachricht der Vermissten kam am Samstag um 11.30 Uhr, es war eine Textnachricht an Shakeds Bruder Haran. „Sie schrieben, dass sie in Schwierigkeiten geraten seien – und dass sie ihn lieben“, sagt Shaked. Danach war Funkstille. Stundenlanges Warten auf eine Nachricht. „Wir hofften, sie würden sich verstecken und darauf warten, evakuiert zu werden. Wir warteten auf eine Nachricht nach der Evakuierung.“ Doch sie warteten vergeblich.

Und dann fällt der Name Gilad Shalit – jene Geisel, die 2006 befreit wurde

Die junge Frau muss davon ausgehen, dass ihre Familie nach Gaza verschleppt wurde: Es war ein Freund der Familie, der hartnäckig mehr als hundertmal das Handy von Shakeds Vater anrief. „Irgendwann antwortete jemand auf Arabisch“, erzählt Shaked. Der Mann habe zwei hebräische Wörter benutzt: jenes für „Geisel“. Und jenes für „Gaza“. Dann nannte der Mann den Namen Gilad Shalit: jener Israeli, der 2006 im Alter von 19 Jahren nach Gaza verschleppt und dort fünf Jahre lang festgehalten worden war. Erst 2011 wurde Shalit befreit – in einem Gefangenenaustausch gegen mehr als tausend palästinensische Gefangene.

Hamas-Terroristen verschleppen eine Person in Khan Yunis.
Hamas-Terroristen verschleppen eine Person in Khan Yunis. © AFP | -

Für die Hamas sind die Geiseln daher ein wichtiges Mittel, um auf Israel Druck auszuüben. Gefangenen sollen als menschliche Schutzschilde eingesetzt werden, um die israelischen Streitkräfte vom Beschuss bestimmter Ziele abzuhalten. Zudem hat die Terrororganisation angekündigt, welchen Preis sie für die Freilassung der Gefangenen verlangt: den Austausch gegen sämtliche palästinensische Gefangene in israelischen Gefängnissen.

Mindestens 1500 Terroristen aus Gaza hatten Samstagmorgen den Grenzzaun nach Israel überwunden. Sie drangen in Dörfer und Städte ein, folterten und massakrierten israelische Zivilisten. Zwischen 100 und 150 Menschen sollen dabei in den Gazastreifen verschleppt worden sein, wo sie nun als Geiseln gehalten werden. Wie viele von ihnen nicht mehr am Leben sind, ist unbekannt. Gaza unterliegt heftigem Beschuss, seit Israel seine Vergeltungskampagne nach dem Überfall der Hamas begonnen hat. Auch zur Frage, wie viele Deutsche unter den Verschleppten sind, gibt es noch keine verlässlichen Angaben.

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Israelische Geiseln: Hoffnung auf zentrale Rolle der Deutschen

Shaked Haran hofft nun auf Druck von außen – und dabei besonders aus Deutschland. „Wenn nicht für alle, dann wenigstens für kleine Kinder und Frauen“ könne das etwas bewirken. Auch in Deutschland lebende Israelis wenden sich an die Politik und fordern Unterstützung bei der Befreiung der Geiseln.

So wie Uri Rimon, der seit zehn Jahren mit seiner Familie in Köln lebt. Er verlangt von Europas Regierungen, „alles in ihrer Kraft Stehende zu tun, um die Entführten zurückzubringen“. Deutschland solle dabei eine zentrale Rolle spielen. „Ich bin mir sicher, dass Deutschland mit seinen Schlichtungskompetenzen stark unterstützen kann“, sagt Rimon. Er organisiert mit anderen Auslandsisraelis und jüdischen Organisationen in verschiedenen europäischen Ländern eine Großkundgebung vor dem Europäischen Parlament. Sie soll an diesem Mittwochnachmittag stattfinden. Rimon sieht Europa und vor allem Deutschland in der Pflicht – auch wegen der Hilfsleistungen für die Palästinensergebiete. Nun fordert der Auslandsisraeli: „Es dürfen keine Hilfen mehr nach Gaza fließen.“

Israel richtet nationale Anlaufstelle für Vermisste ein

Rimon hat sich in den vergangenen Monaten mit Auslandsisraelis in ganz Europa vernetzt, um gegen die umstrittenen Pläne der israelischen Regierung zum Umbau der Justiz zu protestieren. Nun dient dieses Netzwerk humanitären Zwecken. Auch in Israel beteiligen sich mehrere Protestplattformen, die in den vergangenen Monaten zu Massendemonstrationen mobilisiert hatten, jetzt an der Bewältigung der Krise. „Brothers and Sisters in Arms“, das im Protest gegen den Justizcoup aufgerufen hat, den Reservistendienst zu verweigern, stand in den vergangenen Tagen an vorderster Front, um im Raketenhagel mitzuhelfen, die überfallenen Kibbutz-Bewohner zu befreien.

Israels Regierung hat indes eine nationale Anlaufstelle für Vermisste eingerichtet. Angehörige sollen sich mit Ausweisen, Fotos und DNA-Proben an die Stelle wenden, um die Identifizierung von Verschleppten und Getöteten zu ermöglichen.

An der Kriegstaktik Israels im Gazastreifen hat die Tatsache, dass sich dort auch viele israelische Zivilisten befinden, zumindest offiziellen Angaben zufolge keinen Einfluss. Das bestätigte auch Israels Botschafter bei den Vereinten Nationen, Gilad Erdan, Montagabend gegenüber dem TV-Sender CNN: „Unser zentrales Bekenntnis ist es, die Terrorinfrastruktur der Hamas zu vernichten.“