Frankenheim/Rhön. Kaum jemand will heute noch Landarzt werden. Stefan Wagner aber ist aus der Stadt in die Provinz gezogen. Wie kam es dazu gekommen ist.
Wer Stefan Wagner besuchen möchte, lernt zuerst die „Grashüpfer“ kennen. Zwei Etagen im Multizentrum, einem gemeindeeigenen Haus mitten in Frankenheim, belegt die Kindertagesstätte des Deutschen Roten Kreuzes. Zu Wagner führt der Weg vom Parkplatz aus noch einmal um die Ecke und schließlich ein paar Stufen hinunter. Unten, im Keller des Gebäudes, betreibt der 43-Jährige seine Hausarzt-Praxis. „Alles ein bisschen beengt“, sagt er zur Begrüßung. Wenig später spricht er von „der Luft um die Ohren“, die er hier so schätze. Enge und Weite – beides passt im höchstgelegenen Dorf der Rhön, im Dreiländereck Hessen-Thüringen-Bayern, offenbar bestens zusammen.
Als junger Landarzt gehört Stefan Wagner zu einer ebenso seltenen wie gesuchten Spezies. Das gilt nicht nur im thüringischen Frankenheim (Landkreis Schmalkalden-Meiningen), wo Wagners Vorgängerin 2016 ihren Ruhestand antrat. Etwa zur gleichen Zeit zog es einen Mittdreißiger aus einem Krankenhaus in Potsdam zurück in seine Heimatregion, die er einst fürs Studium in Richtung Leipzig verlassen hatte. Aus der Großstadt ging es aufs Land, vorerst als angestellter Arzt eines Medizinischen Versorgungszentrums in Kaltennordheim, 15 Autominuten von Frankenheim entfernt. Warum Wagner die Stadt gegen das Dorf tauschte? Dafür habe es einige Gründe gegeben, antwortet er.
Gesundheit: Raus aus der Großstadt – was für ein Leben als Landarzt spricht
Zum Beispiel diesen: „Ich habe während meiner Zeit in Potsdam viel zu selten die Zeit gefunden, die Vorzüge der Großstadt auch zu nutzen.“ Zu sehr habe er damals „in den Mühlen des Krankenhausbetriebs“ gesteckt, zu wenig Zeit für Privates und die Familie gefunden. Die Pendelei mit dem ÖPNV hat Wagner gegen kurze Wege zwischen eigenem Haus, Arbeitsplatz und Familie getauscht. Und die Anonymität der Stadt gegen ländliche Behaglichkeit. Bis er sich auch für die eigene Praxis entschied, sollte indes noch eine ganze Zeit vergehen. Im Oktober 2020 war es so weit: „Frankenheim bekommt wieder einen Arzt“, meldete die gemeindeeigene Nachrichten-Webseite und freute sich über diesen „Lichtblick“ mitten in der Corona-Krise.
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Möglich gemacht hatte es die Stiftung Ambulante Ärztliche Versorgung Thüringen – mit einer sogenannten Stiftungspraxis. Hinter diesem Konzept verbirgt sich eine von vielen Fördermaßnahmen, wie Bundesländer und Kassenärztliche Vereinigungen sie auflegen, um die ärztliche Versorgung speziell im ländlichen Raum zu sichern. In „unterversorgten oder drohend unterversorgten Gebieten“ betreibt die Stiftung, die 2009 vom Land Thüringen und der Kassenärztlichen Vereinigung Thüringen (KVT) gegründet wurde, eigene Praxen und stellt dort Medizinerinnen und Mediziner nach Abschluss der Facharztweiterbildung ein. Das Prinzip müsse man sich vorstellen wie eine „Niederlassungsfahrschule“, sagt eine KVT-Sprecherin dieser Redaktion.
Bis zu 20.000 Euro Förderung für die Übernahme einer Praxis auf dem Land
Nach 24 Monaten mit enger Betreuung durch die KVT entscheiden die Ärzte, wie es weitergeht: Entweder sie übernehmen die Praxis selbst oder das Anstellungsverhältnis läuft weiter. Seit 2014 seien von elf Stiftungspraxen für Hausärzte zehn übergeben worden, sagt die Sprecherin. Vier weitere befänden sich derzeit in Planung. Wählt ein Arzt die Selbstständigkeit, kann er 20.000 Euro Förderung für die Niederlassung vom Land Thüringen erhalten.
Mit einer Neuauflage der entsprechenden Förderrichtlinie soll diese Summe deutlich erhöht werden. Dafür müssen die Geförderten mindestens 60 Monate niedergelassen bleiben. Finanzielle Unterstützung können Mediziner in Thüringen schon während der Facharztweiterbildung erhalten – sofern sie sich verpflichten, später wenigstens vier Jahre „an der vertragsärztlichen Versorgung in Thüringen teilzunehmen“.
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30 Prozent der Hausärzte in Deutschland sind älter als 60 Jahre
Je nach Bundesland existieren unterschiedliche Hilfen für junge Landärzte. Etliche Programme sind es deutschlandweit. In Bayern und Hessen, Stefan Wagners unmittelbarer Nachbarschaft, ist das nicht anders als in anderen Teilen Deutschlands. Bayern hat unter anderem mit einer „Landarztprämie“ laut Staatsministerium für Gesundheit und Pflege seit 2012 mehr als 700 Hausarzt-Niederlassungen unterstützt Die Kassenärztliche Vereinigung des Freistaats spricht von 105 Förderungen, die sie allein 2021 und 2022 über ihre Programme gegen (drohende) Unterversorgung gewährt habe.
Ihr hessisches Pendant zählte im selben Zeitraum genau 41 Fälle von Ansiedlungsförderung. „Die allgemeinen Vorhersagen zum drohenden Ärztemangel treffen gerade in der hausärztlichen Versorgung zu“, sagt ein Sprecher dieser Redaktion. So erreiche in vielen Arztgruppen bis 2030 mehr als jeder dritte Aktive das mittlere Renteneintrittsalter von 65 Jahren.
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Aus dem zuständigen Thüringer Ministerium heißt es: „Etwa ein Drittel der Haus- und Fachärzteschaft ist bereits mindestens 60 Jahre alt und wird in den kommenden Jahren altersbedingt ausscheiden.“ Darunter seien 460 Hausärzte. Weitet man den Blick auf den Bund, sieht es ähnlich aus. Im Jahr 2021 habe man für 17 Planungsbereiche eine Unterversorgung festgestellt, für 119 eine „drohende Unterversorgung“, sagt ein Sprecher der Kassenärztlichen Bundesvereinigung. „Gut 30 Prozent“ der 55.112 Hausärzte deutschlandweit seien älter als 60 Jahre. Damit stünden in den kommenden Jahren 16.500 von ihnen „unmittelbar vor der Rente“.
Stefan Wagner sagt, er verdanke der Thüringer Stiftung viel. Erste Kontakte knüpfte er während Studium und Weiterbildung, mit dem Wunsch nach einer eigenen Praxis lief er später offene Türen ein. Nachdem er die Stiftungspraxis im Oktober 2022 übernommen hatte, habe er „ein paar Nächte nicht so gut geschlafen“, räumt der Facharzt für Allgemeinmedizin ein.
Der Kredit, die Bürokratie, die Verantwortung für zwei medizinische Fachangestellte. Mittlerweile hat sich der neue Hausarzt längst in Frankenheim etabliert. Obwohl auf dem Land jeder jeden kenne und er deshalb nie anonym sei, sprächen ihn in der Freizeit nur selten Patienten an, sagt er. Zwar entstünden auf dem Land schnell enge Bindungen zwischen Patient und Arzt. „Aber jenseits der Arbeitszeiten kann ich mit den wenigen Patientenanliegen gut umgehen.“
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Stefan Wagner und Frankenheim: Das passt offenbar mindestens so gut zusammen wie die Enge in der Praxis und die Weite der Landschaft. Alles richtig gemacht, oder? Der 43-Jährige nickt. „Nur manchmal“, sagt er, „vermisse ich das Leben in der Stadt noch ein bisschen.“