Brokstedt/Berlin. Ibrahim A. war vorbestraft, als Gewalttäter bekannt. Jetzt hat er mutmaßlich zwei Menschen getötet. Hätte das verhindert werden können?
Zwei junge Menschen tot, zwei Menschen lebensgefährlich verletzt, drei weitere schwer – so viel steht fest nach dem Messerangriff im Regionalexpress von Kiel nach Hamburg. Völlig unklar ist hingegen weiterhin das Motiv des 33 Jahre alten Täters. Gegen den Mann, einen staatenlosen Palästinenser, der seit seiner Einreise 2014 immer wieder auf- und straffällig wurde, wurde jetzt Haftbefehl erlassen. Wäre die Tat zu verhindern gewesen?
Wie war der Tatablauf?
Die 120 Fahrgäste haben es sich am Mittwochnachmittag im RE70 nach Hamburg bequem gemacht. Gut eine Stunde dauert die Fahrt. Unter den Fahrgästen sind eine 17-Jährige und ihr zwei Jahre älterer Begleiter. Ob die beiden ein Paar waren, steht noch nicht fest. Völlig unvermittelt, so stellt es sich heute dar, beginnt eine halbe Stunde nach Fahrtantritt ein Mann auf die ersten Passagiere einzustechen. Er sucht sich seine Opfer willkürlich aus. In vier Waggons finden die Ermittler später Blutspuren.
Um Fahrgäste, also Zeugen, nicht zu beeinflussen, weigert sich die Staatsanwaltschaft am Donnerstag, Einzelheiten zur Überwältigung des Mannes zu nennen. Aber ganz offensichtlich haben Fahrgäste den Mann mit ihren Koffern gestoppt und ihn dabei auch verletzt. In kleinen Bahnhof von Brokstedt, auf halber Strecke zwischen Kiel und Hamburg, überwältigen Polizisten den Täter schließlich. Den kleinen Gasthof in der Bahnhofsnähe funktionieren die Ermittler um – hier betreuen und befragen sie die ersten 24 Zeugen.
Was ist über den Täter bekannt?
Der Angreifer heißt Ibrahim A., ist 33 Jahre alt. Der staatenlose Palästinenser war zuletzt wohnungslos, nachdem er etwa ein Jahr in Hamburg in Haft saß. Die ersten Jahre nach seiner Einreise am 24. November 2014 war Ibrahim A. im nordrhein-westfälischen Euskirchen gemeldet, er stellte auch einen Asylantrag. Auf sein Konto gingen verschiedene Straftaten im Süden des Bundeslandes – wegen Bedrohung, Körperverletzung, Sachbeschädigung, Ladendiebstahl und sexueller Belästigung, heißt es.
Im Juli 2021 zieht es A. dann nach Schleswig-Holstein. Er kommt in einer städtischen Gemeinschaftseinrichtung unter, wo er wieder auffällig wird. Die Stadtverwaltung berichtet von Streitigkeiten, Belästigungen und einem Ladendiebstahl – und schmeißt ihn aus der Unterkunft. Aber eine Strafakte oder gar eine Verurteilung gibt es in dem nördlichsten Bundesland nicht. Im November 2021 meldet Kiel dann Ibrahim A. beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, kurz BAMF. Weil der Mann als „gewaltbereit“ gilt, treibt das BAMF den „Widerruf des Aufenthaltsstatus“ von A. voran. Man will den Mann loswerden. Nur: Wer will einen staatenlosen Palästinenser schon aufnehmen?
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Im vergangenen Winter verliert sich A.s Spur in Kiel – und er schlägt in Hamburg auf. Schon wenige Tage, nachdem er sich aus Schleswig-Holstein davonmachte, verletzte Ibrahim A. vor der Drogenhilfereinrichtung Drob Inn unweit des Hauptbahnhofs eine Person mit einer Eisenstange. Kurz darauf soll er im Herz As, einer Essensausgabe für Wohnungslose, auf eine andere Person eingestochen haben. Ein Gericht verhängt eine Haftstrafe, die wird zwar nicht rechtskräftig. Aber ein Jahr verbringt A. sodann in U-Haft – in der JVA Billwerder. Und das nicht ohne neuen Ärger. Er soll erst einen anderen Häftling verletzt, dann am 2. September einen Beamten in der Haftanstalt angegriffen haben. Erst vor einer Woche, am 19. Januar, wird A. wieder aus der Haft entlassen.
An diesem Mittwoch, wenige Tage nach der Haftentlassung und Stunden vor der tödlichen Messerattacke, taucht Ibrahim A. plötzlich wieder in Kiel auf, sucht zwischen 10 und 11 Uhr am „Infopoint“ der Stadt, den man für Hilfsbedürftige eingerichtet hat, offensichtlich nach einer neuen Unterkunft. Hier macht A. keinen „auffälligen Eindruck“, wie es gestern heißt. Wegen seines ungeklärten Aufenthaltsstatus verweist man ihn dort ans zuständige Einwohneramt. Doch dort kommt A. nie an.
Gab es einen terroristischen Hintergrund?
Die zuständige Staatsanwaltschaft schließt das zwar nicht kategorisch aus, glaubt aber nicht daran. Es gebe weder Hinweise auf einen Terrorakt noch auf eine lange geplante Tat, sagt Carsten Ohlrogge, Chef der Itzehoer Staatsanwaltschaft. Auf Frank Matthiesen, Leiter der Polizeidirektion Itzehoe, machte Ibrahim A. einen „ruhigen Eindruck“. Auf die Frage, ob er verwirrt gewirkt habe, sagte Matthiesen: „Ich glaube, wer Menschen schwer verletzt oder tötet, kann nicht ganz normal sein“.
Wer sind die Opfer?
Das Mädchen, das Ibrahim A. durch „schwerste Stichverletzungen“ getötet hat, war eine 17 Jahre alte Berufsschülerin. Sie und der 19-Jährige, der auch erstochen wurde, kannten sich. Beide Opfer stammen aus Schleswig-Holstein. „Die Eltern sind jetzt informiert“, sagte Innenministerin Sabine Sütterlin-Waack am Morgen. Da aber auch am Nachmittag noch nicht alle Angehörigen der verletzten Opfer informiert waren, sagte die CDU-Politikerin nichts zur Identität der verletzten Fahrgäste.
Warum war der Täter auf freiem Fuß?
Oberstaatsanwalt Ohlrogge sagte am Donnerstag, dass Ibrahim A. nach gängiger Definition nicht als Intensivtäter bezeichnet werden könne. Er habe drei Vorstrafen gehabt. 2022 wurde A. in Hamburg wegen einer anderen Messerattacke erstmals zu einer Haftstrafe verurteilt, dies war aber noch nicht rechtskräftig. Im Januar 2023 wurde er nach einem Jahr Untersuchungshaft aus dem Gefängnis entlassen, weil die Dauer der U-Haft nahezu dem verhängten Strafmaß entsprach. Das Landgericht Hamburg entschied, dass eine weitere U-Haft „unverhältnismäßig“ wäre.
Warum ist Ibrahim A. noch in Deutschland?
Er hält sich legal in Deutschland auf. Als staatenloser Palästinenser genießt er bislang subsidiären Schutz. Dieser Status wird Menschen gewährt, die kein Recht auf Asyl haben oder nicht als Flüchtling anerkannt sind, denen aber in ihrem Herkunftsland ernsthafter Schaden droht. Die Stadt Kiel beantragte zwar 2021 beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) die Einleitung eines so genannten Widerrufs- und Rücknahmeverfahrens. Das Verfahren beim Bamf ist aber offenbar immer noch anhängig. Eine Anfrage unserer Redaktion bei der Nürnberger Behörde blieb bis zum Redaktionsschluss dieser Ausgabe unbeantwortet.
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Was bedeutet „staatenlos“ und warum ist A. bislang nicht abgeschoben worden?
Staatenlos sind Menschen ohne Staatsangehörigkeit. Mehrere Millionen Palästinenser haben keine Staatsangehörigkeit – eine Folge der Teilung des britischen Mandatsgebiets Palästina und der Gründung des Staates Israel 1948. Der mutmaßliche Täter von Brokstedt hält sich bislang legal in Deutschland auf. Selbst wenn sein subsidiärer Schutzstatus aufgehoben würde, müsste erst in einem gesonderten Verfahren geklärt werden, ob damit auch die Aufenthaltserlaubnis erlischt.
Auch in diesem Fall könnte A. nicht ohne weiteres abgeschoben werden: Da er keine Staatsangehörigkeit besitzt, gibt es keinen Staat, in den man ihn verbringen könnte. Oft scheitern Abschiebungen schon an fehlenden Dokumenten. Die palästinensischen Gebiete Gaza und Westjordanland werden von Deutschland nicht als souveräner Staat anerkannt. Sie wären nicht verpflichtet, den staatenlosen A. aufzunehmen. Bundesweit sind knapp 29.455 staatenlose Personen (Stichtag: 31. Dezember 2022 ) gemeldet, wie das Bundesinnenministerium auf Anfrage unserer Redaktion mitteilte. Statistische Daten zur ethnischen Zusammensetzung dieser Personengruppe lägen allerdings nicht vor.
Wie reagiert die Politik?
Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther hat schockiert auf die tödliche Messerattacke reagiert. Der CDU-Politiker sprach von einer schrecklichen und sinnlosen Tat, die zwei Menschen das Leben gekostet habe. „Schleswig-Holstein trauert“, sagte Günther. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) kam zusammen mit Günther am Donnerstagnachmittag zum Bahnhof Brokstedt und legten weiße Rosen nieder. Im Anschluss dankte Faeser den Polizisten, Feuerwehrleuten und Rettungssanitätern: Es sei ihr wichtig, „den Menschen danken zu können, die hier waren und so schnell geholfen haben", sagte Faeser.
Der Landtag in Kiel gedachte am Donnerstagmorgen der Opfer, das Innenministerium hat Trauerbeflaggung für alle öffentliche Gebäude angeordnet. Innenministerin Sütterlin-Waack sprach von einem „sehr dynamischen Tatverlauf und vielen offenen Fragen. „Es ist noch zu früh für politische Schlussfolgerungen. Man müsse erst die schreckliche Tat aufklären und dann Lehren ziehen“. Die Ministerin bat Tatzeugen, „in sich hineinzuhören und sich unbedingt zu melden, sollten sie Hilfe benötigen“. Das Land fordert jetzt beim BAMF die Akte Ibrahim A. an – auch um parlamentarisch aufarbeiten zu können: Wurden Fehler gemacht? Welche waren das? Welche Konsequenzen müssen aus dem Fall Ibrahim A. gezogen werden?
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