Hamburg. Keine Gemeinsamkeiten, sondern vor allem das Trennende – eine überzogene Identitätspolitik teilt das Land in verfeindete Stämme.
Wenn Schätze zu Altlasten werden: Kürzlich stieß ich beim Aufräumen auf alte Bücher und Schallplatten, die meine Kindheit begleitet haben. Darunter waren der Bestseller „Robbi, Tobbi und das Fliewatüt“ und „Die Kleine Hexe“, Pippi Langstrumpf und „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“ sowie einige alte Europa-Schallplatten von Winnetou. Bis vor wenigen Jahren hätte man sich über diese Schätze der Kindheit gefreut – inzwischen sind sie in Verruf geraten. Denn in ihnen wimmelt es, so lautet die Kritik, von rassistischen Stereotypen, Unwörtern und gefährlichen Botschaften.
Was vor einem Jahrzehnt als nachvollziehbare Debatte begann, ob „Indianer“, „rote Krieger“ oder Eskimos noch die richtigen Beschreibungen für indigene Völker sind und ob Begriffe wie Negerkönig oder Negerlein („Die kleine Hexe“) nicht völlig aus der Zeit gefallen sind, hat in den vergangenen Jahren an Schärfe und Radikalität zugenommen, die einen frösteln lässt.
Gehört Jim Knopf auf den Index?
Inzwischen wird nicht mehr diskutiert, sondern dekretiert: Riem Spielhaus, eine Afrikanistin und Islamwissenschaftlerin der Uni Göttingen und Leiterin der Abteilung mit dem interessanten Namen „Wissen im Umbruch“, versuchte kürzlich, Jim Knopf auf den Index zu setzen: Sie kritisierte im NDR „eine ganze Reihe von Stereotypen“. Schon die Geschichte mit dem angespülten schwarzen Baby habe Ambivalenzen. „Auch das Nachdenken darüber, dass man eigentlich nicht dahin gehört, hat befremdliche Züge in unserer heutigen, globalisierten Welt.“
Zur heutigen Zeit könne man andere Bücher finden, etwa von schwarzen Autoren. In der „Zeit“ beförderte eine rassismuskritische Kita-Leiterin aus Groß-Flottbek gleich mehrere Klassiker ins Altpapier: „Jim Knopf wird leider noch gern gelesen“, wusste die gestrenge Dame. Sie beanstandet das Liedgut „Drei Chinesen auf (sic!) dem Kontrabass“ oder den Katzentatzentanz, in dem „sich eine Mehrheitsgesellschaft“ abbildet.
Boris Palmer wartet auf seinen Parteiausschluss
Nun hat es auch eine kleine Gemeinde bei Bad Segeberg erwischt: Die Grüne Jugend fordert ernsthaft, das Dorf Negernbötel benötige einen neuen Namen: „Der Ortsname N***rnbötel enthält das sehr verletzende und rassistische N-Wort“, schreiben die Jungpolitiker bei Instagram und fordern: „N***rnbötel umbenennen!“ Zwar wissen auch die Junggrünen aus Segeberg, dass das Wort „negern“ vom Plattdeutschen näher kommt – aber Pardon wird nicht gegeben. Schließlich sei Plattdeutsch keine weit verbreitete Sprache mehr.
Als Bettina Jarasch, die grüne Spitzenkandidatin in Berlin, auf ihrem Parteitag kürzlich unbefangen erzählte, sie habe als Kind Indianerhäuptling werden wollen, war der Teufel los: Die 52-Jährige musste sich für ihr diskriminierendes Denkmuster öffentlich entschuldigen, die Passage wurde aus dem Parteitagsvideo nachträglich herausgeschnitten.
Derweil wartet Boris Palmer, der grüne Provokateur, auf seinen Parteiausschluss, weil sein völlig missglückter Facebook-Eintrag mit dem bösen N-Wort auch gern missverstanden wurde. Während die einen peinlich ihre Sprache reinigen, rüsten die anderen verbal auf: Moshtari Hilal und Sinthujan Varatharajah, Berliner Künstler mit Migrationshintergrund, schlugen ernsthaft vor, die deutsche Mehrheitsgesellschaft als Nachkommen der Profiteure des NS-Regimes mit dem Begriff „Menschen mit Nazihintergrund“ zu markieren.
Wenig Wissen im Kopf, aber ganz viel Wut im Bauch
Die ganze westliche Welt hat das Fieber der Identitätspolitik erfasst, und die Temperatur steigt fast stündlich: Als in den Niederlanden die weiße Übersetzerin Marieke Lucas Rijneveld das beeindruckende Inaugurations-Gedicht von Amanda Gorman übersetzen sollte, brach sich die Empörung Bahn – das solle gefälligst eine schwarze Übersetzerin erledigen, weil nur die das Gedicht angemessen ins Niederländische übertragen könne. Der Rassismus, den es zu überwinden galt, kehrt in der Form des Antirassismus zurück.
In Schweden machte die Kommune Botkyrka von sich reden, weil sie Bücher entsorgte, die dem interkulturellen Konzept widersprächen und „veraltete Ausdrücke, die als rassistisch aufgefasst werden können“, benutzten. In einem flammenden Plädoyer fragte nun der linksliberale Journalist Janne Josefsson „Wusstet ihr, dass man heute Bücher in Schweden verbrennt?“
Joanne K. Rowling wird vorgeworfen, sie sei „transphob“
Das Gleiche passierte der Erfinderin der Harry-Potter-Romane: Joanne K. Rowling wird vorgeworfen, sie sei „transphob“, wie eine Aktivisten-Exegese ihres Buches „Troubled Blood“ ergeben haben soll: Sie sind Ankläger und Richter in einem und feiern sich in den sozialen Netzwerken damit, ihre Bücher auf einen Scheiterhaufen zu werfen. Als die Aufklärung noch Allgemeingut war, kannte man den Satz von Heinrich Heine: „Dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen.“ Heute hat man weniger Wissen im Kopf, aber mehr Wut im Bauch.
Wann fing das alles an? Und wo führt das hin? Warum konnte aus einer Bewegung, die der Aufklärung entsprang und Emanzipation sowie Rechte für Minderheiten und Benachteiligte forderte, eine wutschnaubende Bewegung werden, die unter dem Ruf nach Identitätspolitik keinen Stein auf dem anderen lassen will? Da werden Denkmäler gestürzt, Werte umgewertet und in einem vormodernen Furor Andersdenkende oder Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft ausgegrenzt.
Thierse spricht Klartext – die SPD-Führung distanziert sich
Vor allem, wie will man diese Bewegung wieder einfangen, die sich von Tag zu Tag radikalisiert und die Spielregeln, die sie selbst für sich einfordert, permanent verletzt? Wolfgang Thierse, das SPD-Urgestein, warnte kürzlich in einem fulminanten Essay in der FAZ vor einer Überhöhung identitätspolitischer Themen. „Themen kultureller Zugehörigkeit scheinen unsere westlichen Gesellschaften mittlerweile mehr zu erregen und zu spalten als verteilungspolitische Gerechtigkeitsthemen. Fragen ethnischer, geschlechtlicher und sexueller Identität dominieren, Debatten über Rassismus, Postkolonialismus und Gender werden heftiger und aggressiver.“
Thierse appellierte daran, dass ein Übermaß an Identitätspolitik Gesellschaft spalte, nämlich dann, wenn Gemeinsamkeiten verloren gehen. Saskia Esken und Kevin Kühnert distanzierten sich daraufhin von „Aussagen einzelner Vertreter*innen der SPD“. „All das beschämt uns zutiefst“, sagten sie zur Debatte und zeigten sich besorgt über ein rückwärtsgewandtes Bild der SPD. Die Strategen in der Parteiführung haben wohl nicht verstanden, dass ein Fixieren auf Minderheiten noch keine neuen Mehrheiten sichert.
Ganz im Gegenteil: Die Identitätspolitik zersetzt das Wir und spaltet die Gesellschaft in eine unüberschaubare Fülle von Ich-AGs. Wenn jeder seine eigene Benachteiligung überhöht, geraten die allgemeinen Fehlentwicklungen aus dem Blick. Wenn jeder Opfer einer Diskriminierung ist, findet keiner mehr den Ausgang aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Wenn jeder das Trennende betont, verliert das Einende die Kraft.
Identitätspolitik verhindert Integration
So löst sich ein Gemeinwesen auf: Was wäre eigentlich aus einem der größten Erfolge der Bundesrepublik geworden – dem Aufstieg bildungsferner Schichten, wenn sich in den Siebzigerjahren die Jungs aus der Arbeiterklasse und das katholische Mädchen vom Lande auf ihre Diskriminierung und ihre Identität zurückgezogen hätten? Würden die Vertriebenen-Nachfahren noch immer fordern, Schlesien gehöre ihnen? Was wäre aus den Zuwanderern geworden, die enorme Integrationsleistungen auf sich genommen hatten? Was aus der deutschen Wiedervereinigung? Ja, was aus dem Land?
Nicht einmal vor der Sprache macht die Identitätspolitik halt – aus der guten Idee, alle einzubeziehen, ist bei vielen längst die Idee geworden, Andersdenkende auszugrenzen. Eine der Grundvoraussetzungen für Kommunikation ist eine gemeinsame Sprache, der Wille, einander zu verstehen. Was aber wird, wenn nicht mehr entscheidet, was jemand sagt, sondern nur noch, wer es sagt und wie er es sagt?
Das Absurde erkennen
Der Dramaturg Bernd Stegemann warnt in seinem Buch „Die Öffentlichkeit und ihre Feinde“ davor, dass sich eine fragmentierte Bevölkerung nicht mehr gegenseitig zuhört und der Austausch von Argumenten und Gegenargumenten zum Erliegen kommt: „Aus politischen Gegnern werden unversöhnliche Feinde.“
Man muss die Identitätspolitik weiterdenken, um das Absurde zu erkennen: Sämtliche Journalistenpreise könnten eingemottet werden, wenn Besserverdiener keine Sozialreportagen mehr schreiben dürften, Heterosexuelle nicht mehr über Geschlechterumwandlungen oder Deutsche nicht mehr über Diskriminierung von Zuwanderern: Selbst Günter Wallraffs Enthüllungsbuch „Ganz unten“, dass die Ausbeutung von Migranten aufdeckte, würde zu einer bösen Mischung von kultureller Aneignung und „Black facing“.
Entpolitisierte Idee der Gesellschaft
Es gibt Rätsel auf, was viele Grüne und Linke und längst auch etliche Sozialdemokraten umtreibt – es ist ein Ungeist, der vor den Campus der Universitäten in die Parteizentralen hinein weht. Eine der Linken, die es klar benennt, ist Sahra Wagenknecht. Sie bringt es in ihrem Buch „Die Lifestyle-Linken“ mit einem Beispiel auf den Punkt: Die Firma Knorr ließ sich vor einem Jahr dafür feiern, den Klassiker Zigeunersauce ab sofort in „Paprikasauce Ungarische Art“ umzubenennen – die Empörung über die Rassismusdebatte war in den sozialen Netzwerken angeschwollen.
Das zeitgleich den 550 Mitarbeitern im Knorr-Stammwerk Heilbronn mit der Drohung einer Betriebsstilllegung der Tarif zusammengestrichen wurde, interessierte kaum jemanden. Deshalb steht die Identitätspolitik seit ihrer Entstehung vor rund 25 Jahren in der Kritik: Schon 1998 kritisierte der Philosoph Slavoj Žižek, die postmoderne Identitätspolitik der partikularen (ethnischen, sexuellen und anderer) Lebensstile passe perfekt zu einer entpolitisierten Idee der Gesellschaft.
Hohle Phrase und Selbstüberhöhung
Die identitätspolitische Empörung lebt oft von der hohlen Phrase und der Selbstüberhöhung. Sie mag den Empörten ein gutes Gefühl geben, sie raubt der emanzipatorischen Linken aber jede Möglichkeit, einen Wahlsieg zu erringen: Wer das amerikanische Modell der Identitätspolitik auf Deutschland überträgt, organisiert nur seine Niederlage. Denn der identitätspolitische Gedanke erfasst in seiner ständigen Wiederholung eben nicht nur junge queere Aktivisten oder benachteiligte Migranten, sondern am Ende auch die Mehrheitsbevölkerung.
Der alte weiße Mann entdeckt so erst, dass er alt und weiß ist – und bringt ihn möglicherweise auf dumme Gedanken. Schon demografisch entscheidet er hierzulande die Wahl – es ist klüger, ihn mitzunehmen und einzubinden, statt ihn zu beschimpfen und auszugrenzen. Wohin das führen kann, zeigt der Wahlsieg von Donald Trump 2016: Dabei unterlag die identitätspolitisch bewegte Hillary Clinton dem rüden, ressentimentgetriebenen Gegenmodell von Trump.
„Linke Identitätspolitik kann sich auf ‘68 berufen, aber nur auf das „andere ‘68“ der Neuen Rechten, die damals den „Ethno-Pluralismus“ und den Kult der Reinheit erfanden“, kritisierten der Politikwissenschaftler Claus Leggewie und der Grüne Daniel Cohn-Bendit in der „taz“.
Fehlentwicklungen stoppt man besser früh
Es ist übrigens auch kein Zufall, dass die sogenannte „Identitäre Bewegung“ zugleich auch ein rechtsextremistisches Projekt ist und auf „Le Bloc identitaire“ in Frankreich zurückgeht, eine radikale Bewegung der Neuen Rechten, die gegen „Überfremdung“ und für Regionalismus, Nationalismus und Kulturrassismus steht. Identität ist das Pattex der Radikalen, es imprägniert gegen die Vernunft und schützt vor jedem Zweifel.
Am Ende spaltet die Identitätspolitik die Gesellschaft und radikalisiert ihre Ränder. Der Journalist und Tagesschausprecher Constantin Schreiber hat in seinem Buch „Die Kandidatin“ den Weg einer solchen Gesellschaft vorgezeichnet – der Roman der Stunde zur Identitätsdebatte: Dieses Deutschland von morgen ist ein Land der „totalen Vielfalt“, in dem man die Diversity-Hymne anstimmt und Vielfaltsmerkmale sogar im Pass stehen, die dann alle Türen öffnen oder verschließen. Eine schöne neue Welt? Huxley und Orwell lassen grüßen. In einer solchen Welt wären Robbi, Pippi & Winnetou längst ein Fall für den Staatsanwalt.
Das alles mag übertrieben klingen, aber keiner unterschätze die Dynamik der Entwicklung. Vor zehn Jahren hat man darüber gelacht, vor fünf Jahren diskutiert. Und heute schweigen schon manche aus Angst – siehe Wolfgang Thierse. Fehlentwicklungen stoppt man besser früh. Bevor es zu spät ist.