Berlin. Die Unfälle mit E-Scootern steigen, bei vielen Verunglückten ist Alkohol im Spiel: Der Ruf nach einer Null-Promille-Grenze wird laut.
Seit Mitte Juni sind E-Scooter auf Deutschlands Radwegen und Straßen erlaubt. Mehrere Verleihfirmen haben daraufhin ihre Gefährte in Großstädten aufgestellt, zu Tausenden rollen die Menschen nun durch die Städte. App herunterladen und los – mit bis zu 20 Stundenkilometern.
Doch mit der Zulassung auf deutschen Straßen steigt auch die Zahl der Verletzungen, sagen Mediziner und Unfallforscher nach den ersten Wochen. Zu wenig Erfahrung, kein Schutz, viel zu häufig auch Alkohol: Jetzt werden erste Forderungen nach strengen Regeln für die Elektrorollern laut. Das sind die größten Gefahren.
Betrunken auf dem E-Scooter: Promillegrenze oft missachtet
Raus aus der Kneipe und eine Rollerfahrt durch die laue Sommernacht – vielleicht nach Hause, vielleicht in die nächste Kneipe. Klingt harmlos, doch für den E-Tretroller gilt, was auch für Autos gilt: Es gibt eine Promillegrenze, und die wird nach den ersten Erfahrungen häufig missachtet: „Alkohol scheint das dringendste Problem bei der Nutzung dieser neuen Fahrzeuge zu sein“, sagt Carla Bormann vom Deutschen Verkehrssicherheitsrat (DVR).
So hat die Polizei in München allein in den ersten vier Wochen nach Zulassung 100 Trunkenheitsfahrten registriert. Auch erste Erfahrungen aus dem Ausland zeigen: Viele Verletzungen gehen auf Alkohol zurück. So berichtet ein dänischer Mediziner in der Zeitung „Berlingske“, ein Drittel der in Kopenhagener Kliniken eingelieferten Rollerfahrer sei betrunken gewesen.
Lauterbach regt Null-Promille-Grenze für E-Scooter-Fahrer an
SPD-Fraktionsvize Karl Lauterbach bringt deswegen eine Null-Promille-Grenze für E-Scooter-Fahrer ins Gespräch: Die derzeit geltenden Promillegrenzen reichten angesichts der rasant steigenden Unfallzahlen nicht aus. „Für E-Scooter sollten wir eine Null-Promille-Grenze prüfen“, sagte der SPD-Gesundheitsexperte unserer Redaktion. Derzeit gelten die üblichen Promillegrenzen wie für Autofahrer.
Lauterbach verlangte zudem mehr Kontrollen und mehr Kontrolleure für den E-Scooter-Verkehr; die jetzige Personalstärke bei Polizei und Ordnungsämtern reiche dafür jedoch nicht aus. Auch der Städtetag hatte sich bereits für mehr Polizeikontrollen bei E-Scootern ausgesprochen.
SPD-Politiker Lauterbach fordert nun eine stärkere Beteiligung der Hersteller: „Wir müssen die Anbieter von E-Scootern in die Pflicht nehmen. Sie sollten sich an den Kosten beteiligen, die dem Staat durch den neuen Trend entstehen. Beim Sicherheitspersonal, aber auch bei den Unfallkosten.“
- Tipp: Fahrer von Elektrorollern müssen sich bislang an die Promillegrenze für Autofahrer halten. Bedeutet: Für Fahrer unter 21 Jahren und Menschen in der Probezeit gilt 0,0 Promille. Für alle anderen gilt, wer mit 0,5 bis 1,09 Promille ohne eine alkoholbedingte Auffälligkeit erwischt wird, begeht eine Ordnungswidrigkeit. Ab 1,1 Promille ist es eine Straftat.
Fehlender Schutz: Keine Helmpflicht auf E-Scooter
Zwar empfehlen die meisten Verleiher in ihren Apps einmalig zu Beginn das Tragen eines Helms – doch eine Helmpflicht gibt es nicht. Wohl auch aus logistischen Gründen. Denn für die Verleiher wären Helme – anders als bei E-Rollern – nur schwer bereitzustellen. Denn: Wohin damit?
Doch gerade dieser fehlende Schutz ist aus Sicht von Medizinern das größte Risiko. „Wir haben hier Rollerfahrer mit Gehirnerschütterung und Schädel-Hirn-Trauma behandelt“, erzählt Markus Gondert.
Er ist ärztlicher Leiter der Rettungsstelle am Unfallkrankenhaus Berlin und sagt: „Das größte Problem ist die Unerfahrenheit. Die Leute nehmen ohne jegliche Erfahrung mit den Rollern und ohne Schutz am Straßenverkehr teil.“ Die Folgen: Verletzungen im Gesicht, gebrochene Handgelenke durch den Versuch sich abzufangen, verdrehte Knie durch das Absteigen in voller Fahrt. Allein in Berlin gab es in den ersten vier Wochen nach Zulassung vier Schwer- und 15 Leichtverletzte. Die Gewerkschaft der Polizei regte bereits eine Helmpflicht für E-Scooter an.
Zur Entwarnung gebe es jedenfalls keinen Anlass, sagt auch Siegfried Brockmann. Der Leiter der Unfallforschung der Versicherer in Deutschland (GDV) hat alle bislang verfügbaren Informationen zusammengetragen und sagt: „Die Unfallhäufigkeit pro zurückgelegtem Kilometer scheint gegenüber dem Fahrrad deutlich erhöht.“ Und: „Wir sehen schwere Verletzungen.“ In Schweden starb bereits ein Mann nach einem Unfall mit E-Scooter.
- Tipp: Mediziner wie Unfallexperten – alle empfehlen: Helm tragen. Der ADAC rät zusätzlich zu Knieschonern und Handschuhen, wie es auch Inlineskater tun. Wer stürzt und Symptome wie Übelkeit, Kopfschmerzen oder verschwommenes Sehen hat, sollte in eine Notaufnahme gehen, „und nicht erst am nächsten Tag zum Hausarzt oder gar nicht, weil ja Urlaub ist“, sagt Gondert.
E-Scooter funktionieren nicht wie Fahrräder
Wer glaubt, E-Scooter-Fahren sei wie Fahrradfahren, irrt. „Es ist ein Fahrzeug mit sehr kleinen Rädern. Erschütterungen können kaum abgefangen werden“, sagt Bormann vom DVR. So würden kleinste Unebenheiten wie Wurzeln oder Schlaglöcher zu einer Unfallgefahr.
Auch das Beschleunigen und Bremsen funktioniere anders als beim Fahrrad, „alles ist viel unmittelbarer“, sagt Bormann. Deswegen gelte – etwa bei abgeflachten Bordsteinen, über die ein Radweg führt, oder bei Ausweichmanövern und Richtungswechseln: „Langsamer fahren, um nicht ins Straucheln zu geraten.“
Gewerkschaft der Polizei fordert Blinker für E-Scooter
Hinzu kommt die instabile Position auf dem kleinen Brett mit dem kleinen Lenker zum Festhalten. Sie macht es für Ungeübte auch schwer, einen Abbiegewunsch anzuzeigen. Denn anders als beim Fahrrad müssten beide Hände am Lenker bleiben, um das Gefährt auszubalancieren, erklärt die Deutsche Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie (DGOU). Gleichzeitig sind Blinker genauso wie Bremslicht für die Roller nicht vorgeschrieben.
Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) will das ändern: „Bei den E-Scootern hat die Politik entscheidende Sicherheitsstandards vergessen“, sagte der GdP-Bundesvorsitzende Oliver Malchow unserer Redaktion. E-Scooter müssten dringend mit Blinkern ausgestattet werden. Sie sollten genauso verkehrssicher sein wie Motorroller oder Mopeds.
„Die Politik sollte die Hersteller schleunigst zu Nachrüstungen verpflichten“, so Malchow. Denn: Wer mit hohem Tempo unterwegs sei und Richtungswechsel nicht elektronisch anzeigen könne, gefährde sich und andere.
- Tipp: Da das eigene Verhalten von anderen schlecht einzuschätzen ist, sollten Rollerfahrer immer mit Fehlern anderer rechnen. So unterschätzten Fußgänger und andere Verkehrsteilnehmer laut DGOU oft die Schnelligkeit der Scooter. Und Neulinge sollten üben, sind sich Experten einig. Der ADAC empfiehlt: Anhalten, Überblick verschaffen, dann abbiegen. Und niemals zu zweit auf den Roller – auch wenn das Gesamtgewicht nicht überschritten wird.
Fehlendes Wissen zur StVO
Für Elektroroller gilt auch die Straßenverkehrsordnung (StVO). „Ich fürchte nur, oftmals kennen Touristen die hier geltenden Regeln gar nicht“, sagt Unfallforscher Brockmann. Und: Die E-Tretroller dürfen bereits ab 14 Jahren gefahren werden – „ein Alter, in dem die Fahrer nicht einmal einen Mofaführerschein haben können“, sagt Carla Bormann vom DVR.
Die jungen Fahrer haben ihre Kenntnis der StVO also mit Glück seit der Fahrradprüfung zu Grundschulzeiten behalten. Oder aber sie haben große Wissenslücken, etwa wenn sie im Alltag keine Fahrradfahrer sind. „Ein weiteres Problem, das wir sehen, ist das unerlaubte Fahren auf dem Gehweg“, sagt Bormann. Hier wird laut ADAC auch ein Bußgeld in Höhe von 15 bis 30 Euro fällig.
- Tipp: Es kann helfen, sich noch einmal mit einigen wichtigen Regeln auseinanderzusetzen. So dürfen auch E-Tretroller nicht gegen die Einbahnstraße fahren; der Fußweg und Fußgängerzonen sind tabu – auch bei dem Zusatzschild „Radfahrer frei“; gibt es eine Fahrradampel, orientieren sich Fahrer an ihr, wenn nicht, dann an der Ampel für den fließenden Verkehr; bei gemeinsamen Geh- und Radwegen haben Fußgänger immer Vorrang, also: Tempo runter. Und Elektroroller-Fahrer sollten hintereinanderfahren, nicht nebeneinander. Sonst kann es auch hier ein Bußgeld geben.
Riskantes Abstellen und Parken
Nicht nur schnelles Fahren auf dem Gehweg ist ein Risiko – besonders für Ältere oder Menschen mit Behinderung. Auch das wahllose Abstellen der Roller mitten auf dem Weg. Für sehbehinderte Menschen ein Problem, wie etwa der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband kritisiert. Genauso für Rollstuhlfahrer. Es gilt: E-Scooter dürfen auf dem Bürgersteig oder am Straßenrand abgestellt werden, aber sie dürfen andere nicht behindern.
Trotz aller Bedenken ruft die kommissarische SPD-Vorsitzende Malu Dreyer dazu auf, den E-Scootern eine Chance zu geben. „Städte wie das israelische Tel Aviv zeigen, dass es funktionieren kann“, sagte die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin unserer Redaktion. Daher solle man das Kind nicht mit dem Bade ausschütten.
„Es gibt zum einen gesetzliche Regelungen und zum anderen die Möglichkeit, dass die Städte mit den Verleihfirmen verbindliche Vereinbarungen abschließen, wann und wo die Roller vermietet und benutzt werden dürfen. Das muss sich jetzt einspielen.“
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