Berlin.

Nicht vor März wird es eine neue Regierung geben, glaubt Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU). Wichtige Entscheidungen, etwa zum Familiennachzug für Flüchtlinge, sollen trotzdem fallen.

Herr de Maizière, wie viel Macht und Einfluss hat ein Innenminister, der nur geschäftsführend im Amt ist?

Thomas de Maizière: Ein geschäftsführender Minister hat nach der Verfassung alle Rechte und Pflichten. Aber es ist gut geübte Staatspraxis, dass man nicht ohne Not Entscheidungen trifft, die eine nächste Regierung besonders binden. Daran halte ich mich.

Wie weit reichen Ihre Planungen in diesem Amt?

Wenn ich den Zeitplan der SPD zugrunde lege – erst Sondierungen, dann Parteitag, dann Verhandlungen, dann Mitgliederentscheid –, reden wir für den Fall einer Einigung über eine Regierungsbildung wohl nicht vor März.

Bis dahin müssen wichtige Entscheidungen getroffen werden – etwa in der Flüchtlingspolitik. Bleibt der Familiennachzug ausgesetzt?

Das Flüchtlingsthema ist hoch umstritten – nicht nur beim Familiennachzug für diejenigen, die bei uns nur vorübergehend Schutz bekommen. CDU und CSU haben ein Regelwerk vereinbart, das Verhandlungsgrundlage bei den Sondierungen mit der SPD sein wird, wie zuvor bei Jamaika. Wir haben alle die Chance und die Pflicht, in der Flüchtlingspolitik eine befriedende Lösung zu finden, um die Spaltung unserer Gesellschaft bei diesem Thema zu überwinden. Das ist eine wichtige Aufgabe für eine neue Regierung. Ich glaube, dass das gelingen kann.

Gelingt das mit einer weiteren Aussetzung des Familiennachzugs?

Ich halte einen Kompromiss zwischen Union und SPD in der Flüchtlingspolitik für geboten und auch für möglich. Für den Familiennachzug sollten wir uns ­bemühen, eine Vorabvereinbarung zu treffen, wenn bis März noch keine Regierung steht. In eine solche Verständigung könnten neben Union und SPD weitere Fraktionen eingebunden werden.

Auch die AfD?

Nein. Wir werden uns nicht von der AfD abhängig machen.

Die CSU hat das Regelwerk der Union zur Zuwanderung für unverhandelbar erklärt. Wo sehen Sie Spielraum für einen Kompromiss?

Das Regelwerk zeigt einen klugen Weg in der Migrationspolitik auf, und es ist damit die Verhandlungsposition der Union. Ich halte generell nichts davon, mit roten Linien und Vokabeln wie unverhandelbar öffentlich in die Gespräche zu gehen. Dass andere das getan haben, war Teil des Problems in den Jamaika-Verhandlungen.

Ist die SPD für Sie als Innenminister ein einfacherer Partner als FDP und Grüne?

Wir haben in der großen Koalition hier jedenfalls viel erreicht. Und zwischen den Innenministern von Union und SPD in Bund und Ländern gibt es viel gegenseitiges Verständnis. Aber bei der Regierungsbildung kommt es auf eine Gesamtlösung bei allen Themen an. Der Ausgang des Parteitags der SPD war letztlich keine Überraschung. Es wird jetzt die ersten Sondierungsgespräche geben. Und wir sollten uns wechselseitig nicht überfordern, was Tempo und Inhalte angeht.

Soll heißen?

Die SPD sollte nicht glauben, dass alles, was sie als besonders wichtig ansieht, von uns akzeptiert werden kann. Und natürlich gilt das auch umgekehrt.

Die SPD akzeptiert, dass Kirchengemeinden den Staat an Abschiebungen hindern. Wie gehen Sie damit um?

Das Kirchenasyl ist insgesamt ein sensibles Thema. Das Spannungsfeld lässt sich wie folgt beschreiben: Kirche kann barmherzig sein. Der Staat muss gerecht sein. Kirchenasyl muss, wenn überhaupt, immer Ultima Ratio sein, ein allerletztes Mittel. Wir haben darüber eine Vereinbarung mit den Kirchen getroffen, die vor allem regelt, dass die Kirchen die staatlichen Stellen über jeden Fall informieren. Das klappt leider nicht immer. Die Zahlen für das Kirchenasyl sind auch höher als erwartet. Im Zeitraum vom 1. August 2016 bis zum 31. Oktober 2017 wurden dem Bundesamt 1690 Kirchenasylfälle für insgesamt 2225 Personen gemeldet. Darüber wollen Bund und Länder mit den Kirchen sprechen.

Innenstaatssekretär Günter Krings spricht bereits von Missbrauch . . .

Wir sollten die bevorstehenden Gespräche nicht belasten. Die Kirchen berufen sich auf ihre humanitäre Verantwortung. Ich sage: Selbstverständlich werden humanitäre Gesichtspunkte auch in den staatlichen Verfahren geprüft und berücksichtigt.

Wird die neue Regierung dem Druck aus Brüssel nachgeben und die Kontrollen an den deutschen Grenzen einstellen?

Im Ziel sind wir uns einig: Wir wollen einen besseren Schutz der EU-Außengrenzen, damit grenzfreier Verkehr im Schengenraum dauerhaft möglich bleibt. Da ist sehr viel geschehen, etwa der Aufbau einer europäischen Küstenwache, und es geschieht noch sehr viel.

Nämlich was?

Ein wichtiges Beispiel: Wir werden alle Angehörigen von Drittstaaten registrieren, die in die Europäische Union einreisen und ausreisen. Dann kann man auch prüfen, ob sie noch hier sind, wenn ihr Visum abgelaufen ist. Das ist ein zentraler Fortschritt, den wir in Europa in Rekordzeit verhandelt haben . . .

. . . und der wann umgesetzt wird?

Die Registrierung ist verbunden mit einem komplizierten IT-Verfahren. Wir werden voraussichtlich 2020 so weit sein. Das wird die Sicherheit an den Außengrenzen massiv verbessern.

Und so lange kontrollieren Sie die deutschen Grenzen?

Über nationale Grenzkontrollen müssen wir nach dem europäischen Recht von Fall zu Fall entscheiden. Die jetzige Frist läuft im nächsten Mai aus. Bis dahin haben wir hoffentlich eine funktionierende Regierung. Dann wird neu entschieden.

Verringern Kontrollen der Binnengrenzen tatsächlich die Terrorgefahr?

Anzunehmen, dass Grenzkontrollen ein Allheilmittel sind, wäre ein Irrglaube. Es gibt nicht die eine Maßnahme, die die Gefahr des Terrors bannt. Es ist vielmehr ein Bündel von Maßnahmen, das zu mehr Sicherheit führt. Dazu zählen der Informationsaustausch über Gefährder und Straftäter in Europa und starke Befugnisse der Sicherheitsbehörden. Und dazu zählen bis zu einem wirklich funktionierenden Schutz der EU-Außengrenzen auch Binnengrenzkon­trollen.

Der Terroranschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt ist ein Jahr her. Ist Deutschland seither sicherer geworden?

Deutschland ist sicherer geworden. Wir haben etliche Maßnahmen ergriffen: beim Abschiebungsrecht, beim Ausweisungsrecht, bei der Führung gemeinsamer Dateien in Europa. Wir haben mehr Personal, neue Organisation und bessere Ausrüstung der Polizeien. All das sind wichtige Maßnahmen und Lehren aus dem Berliner Terrorfall.

Können Sie ausschließen, dass sich Behördenversagen wie im Fall Amri wiederholt?

Die Sicherheitsbehörden haben gerade auch in diesem Jahr etliche Anschläge verhindert. Wir haben so viele Verurteilungen und Ermittlungsverfahren wie nie zuvor. Aber so bitter es auch ist, kann ich nicht ausschließen, dass es in Deutschland wieder zu einem Terroranschlag kommt. Wir ziehen unsere Konsequenzen und arbeiten daran, dass es keine Zonen unterschiedlicher Sicherheit in unserem Land gibt. Dafür brauchen wir ein einheitliches Musterpolizeigesetz. Auch die Zusammenarbeit von Bund und Ländern muss noch besser werden.

Hilft dabei ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss?

Wenn auch auf Bundesebene ein Untersuchungsausschuss zum Fall Amri eingerichtet wird, dann werden wir dessen Arbeit selbstverständlich voll unterstützen. Ich möchte allerdings darum bitten, mit weiteren Konsequenzen nicht so lange zu warten, bis der Ausschuss zu Ergebnissen gekommen ist. Wir dürfen keine Zeit verlieren.

Was hat Sie im Fall Amri am meisten entrüstet?

Die fatalste Fehleinschätzung betraf die Gefährlichkeit dieses Menschen. Eine der schwierigsten Entscheidungen, die Polizisten zu treffen haben. Mich ärgert auch, dass er nicht abgeschoben wurde, obwohl das möglich gewesen wäre. Man hat nicht einmal Abschiebehaft beantragt. Das war ein weiteres Problem.