Budapest. Die Lage am Budapester Bahnhof spitzte sich in den vergangenen Tagen dramatisch zu. Ein Situationsbericht aus Ungarn:
Nein, dem Tross der Hunderten, die zu Fuß loszogen, wollte er sich nicht anschließen, sagt Samer und fegt mit seinem Besen etwas Unrat beiseite. Der 45 Jahre alte Syrer steht inmitten einer unwirklichen Umgebung: In der Unterführung des Keleti-Bahnhofs in Budapest haben Hunderte Menschen Zelte aufgeschlagen, einige schlafen auf Isomatten, Kinder spielen Ball, Männer rauchen. Irgendwo in der Menge hat sich ein Streit an einigen Kartons gefüllt mit Brot und Waffeln entfacht. Vor den acht Dixi-Klos schützt sich eine Frau mit einem Halstuch vor der Nase vor dem beißenden Uringeruch.
Der Syrer Samer wirft einen Blick hinter sich auf das Zelt, in dem seine Söhne schlafen. „Auch wegen der Kinder sind wir nicht losgelaufen“, sagt er. Sie brauchen Ruhe. Doch der Vater, der mit Söhnen und Frau vor einem Monat in Damaskus die Flucht antrat, hat nach den letzten vier Tagen am Bahnhof Mut gefasst. Das liegt an einer Nachricht, die kurz zuvor die ungarische Regierung verkündet hat: Sie schickt die Flüchtlinge nun doch auf die Weiterreise, in Bussen bis zur österreichischen Grenze. „Wir bereiten alles vor und dann geht es los.“ Das Ziel der syrischen Familie ist nicht Deutschland, sondern Schweden, sagt der 45-Jährige.
Um kurz nach halb eins Nachts rollen dann tatsächlich die ersten blauen Omnibusse an. Dass es dafür höchste Zeit war, zeigen die Erlebnisse einer deutschen Studentin: Isabelle Z. hilft seit einigen Tagen aus eigener Initiative. „Ich habe Babybrei gekauft, Multivitamin-Tabletten und Decken. Es gibt kaum Helfer, geschweige denn eine ordentliche ärztliche Versorgung“, sagt die Veterinärmedizin-Studentin. Sie hat vor kurzem einen Krankenwagen gerufen, der nun mit Blaulicht hinter ihr parkt. Die Ärzte behandeln ein anderthalb Jahre altes Kind. „Mir ist es aufgefallen, weil es gerötete Augen hatte und sich übergeben hat. Dann stellte sich heraus, dass es seit Tagen nichts zu Essen mehr bekommen hat.“
Am späteren Abend geht das Gerücht um, dass rechte Ultras nach dem Fußballspiel Ungarn-Rumänien zu der Bahnhofsstation marschieren wollen. Die Präsenz der Polizisten mit Gummiknüppeln und Schäferhunden erhöht sich spürbar. Die Beamten sperren die angrenzenden Straßen ab, zwei Hubschrauber kreisen im Nachthimmel.
Unten hat jeder seine eigene Vorstellung, wie es weitergeht, was die Zukunft ihm bringt. Zum Beispiel der 18-Jährige Ahmed Nehedd. Er steht am Toilettenwaschbecken einer Burger-King-Filiale, die direkt am Bahnhofsplatz liegt. Ein Mitarbeiter der Kette reißt die Tür auf, faucht Ahmed an, weil er den Boden mit seinen schmutzigen Füßen dreckig mache. „Shoes are broken“, sagt der junge Palästinenser. Er ist aus Gaza geflohen, sagt Ahmed. Er will Fußballspieler werden, am liebsten in Deutschland. München, München, schwärmt er. Warum gerade Deutschland? Weil es da Arbeit gibt, den Mensch gutgeht, alles in Ordnung ist.
Inzwischen hat sich bei den meisten Lagernden herumgesprochen, dass die Busse auf dem Weg sind. Durch die Menge in der U-Bahnunterführung läuft ein deutscher Pfarrer, der seinen Namen nicht lesen will, und verteilt Bonbons an Flüchtlingskinder. „Dieser Zustand hier ist nicht zu ertragen. Wir brauchen legale Flüchtlingswege“, sagt er. Er sei mit seinem eigenen Auto nach Budapest gefahren und spielt mit der Idee, zumindest drei Menschen mitzunehmen. „Dass das nicht legal ist, erscheint mir in diesem Chaos wirklich zweitrangig.“