Brüssel/Hannover. David McAllister, CDU-Abgeordneter im Europaparlament mit britischen Wurzeln, über die Bedeutung der britischen Unterhauswahl für Europa
Es gibt wohl kaum einen deutschen Politiker, der die Briten besser versteht, als David McAllister, 44. Der CDU-Politiker war von Juli 2010 bis Februar 2013 Ministerpräsident von Niedersachsen und der erste deutsche Regierungschef mit doppelter Staatsangehörigkeit – der deutschen und der britischen. McAllisters Vater war Zivilbeamter der britischen Streitkräfte in Deutschland, seine Mutter eine deutsche Lehrerin. Das Abendblatt sprach mit dem CDU-Europaabgeordneten über die Unterhauswahlen in Großbritannien an diesem Donnerstag, eine mögliche Volksabstimmung über den Austritt des Vereinigten Königreichs und eine EU ohne die Briten.
Abendblatt: Herr McAllister, wie hoch ist das Risiko, dass die Unterhauswahlen der erste Schritt zum Brexit, zum Austritt aus der EU sind?
McAllister: Die Wahl wird sehr spannend. Weder die Konservativen noch Labour werden wohl eine absolute Mehrheit erzielen. Die schottischen Nationalisten werden drittstärkste Fraktion. Die Bildung einer tragfähigen parlamentarischen Mehrheit wird nicht einfach. Die nächste Regierung in London wird entweder eine Koalition oder eine Minderheitsregierung sein. Premierminister David Cameron hat ein Referendum bis spätestens 2017 versprochen, die anti-europäische UKIP noch eher, Labour und Liberale nur, falls weitere Kompetenzen von der nationalen auf die europäische Ebene verlagert würden. Ob es eine Volksabstimmung gibt, hängt also wesentlich davon ab, wer nächster Premierminister wird und in welcher parteipolitischen Konstellation.
Kein Referendum in jedem Fall?
McAllister: Sofern Herr Miliband Regierungschef werden sollte und die EU in den nächsten Jahren keine weiteren Zuständigkeiten erhielte, gäbe es vermutlich kein Referendum.
Auch für die Austrittspropagandisten von der UKIP wachsen die Bäume nicht in den Himmel – wie viele Briten wollen dem Kontinent den Rücken kehren?
McAllister: Anders als bei den Europa-Wahlen kommt UKIP bei der Unterhauswahl wegen des Mehrheitswahlrechts in den Wahlkreisen höchstens auf eine Handvoll Sitze. Umfragen zeigen, dass bis zu 60 Prozent der Briten für eine EU-Mitgliedschaft sind, 40 Prozent dagegen. In Schottland liegt die Zustimmung noch höher. Die anti-europäische Bewegung ist allerdings leichter zu mobilisieren. Das gilt es, bei einem möglichen Referendum zu beachten.
Können Sie sich eine EU ohne England, aber mit Schottland vorstellen?
McAllister:Mitglied der EU ist das Vereinigte Königreich. Das möge so bleiben. Es ist gut für Engländer, Schotten, Waliser und Nordiren und ebenso für ihre 27 Partnerländer in der EU.
Die Kanzlerin sagt: Je mehr man den Briten zurät, in der EU zu bleiben, desto größer die Lust, das nicht zu tun.
McAllister: Jede demokratische Entscheidung der Briten ist zu respektieren. Die Vorzüge der EU-Mitgliedschaft liegen auf der Hand. Ein entscheidendes Argument in einer Referendumskampagne sollte sein: Die Alternative zur EU-Mitgliedschaft ist eben nicht mehr dabei zu sein, mit allen Nachteilen für die Menschen und die britische Wirtschaft. Das müsste jeder Stimmberechtigte bei einem Referendum abwägen.
Manche freuen sich auf den Abgang eines Störenfrieds – wie weit kann die EU gehen, um ein widerspenstiges Mitglied zu halten?
McAllister: Jetzt ist nicht die Zeit, detaillierte Überlegungen zu erörtern. Wir sollten die Wahl sowie die Regierungsbildung gelassen abwarten und anschließend die konkreten Vorschläge aus London prüfen. Jean-Claude Juncker hat zu Recht die Antwort auf die britische Frage als eine Top-Priorität bezeichnet und für einen fairen Deal geworben. Dabei werden wir uns mit bestimmten britischen Sonderinteressen wie der Nicht-Teilnahme an der Währungsunion und am Schengenraum abfinden.
Auf der anderen Seite wird London akzeptieren müssen, dass in der Eurozone die Vertiefung der Integration weitergeht. Der einheitliche Binnenmarkt darf nicht gefährdet werden, die vier Freiheiten gelten für alle 28 EU-Staaten. Eines steht fest: eine Europäische Union ohne Großbritannien wäre eine andere und bestimmt keine bessere Union. Ich bin mit den Briten nicht immer einer Meinung. Aber sie sind ein ganz wichtiger Partner, gerade für uns in Deutschland: bei wirtschafts- und finanzpolitischen Reformen, beim Abbau der Bürokratie oder in der Außen- und Sicherheitspolitik, dank ihrer weltweiten diplomatischen Expertise und der herausragenden Qualität ihrer Streitkräfte.
Was ist der besondere Beitrag der Briten im Brüsseler Betrieb?
McAllister: Die Briten sind nicht immer einfach. Sie stellen kritische Fragen etwa zu den Themen Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit oder wie man die Europäische Union bürgernäher und effizienter organisieren kann. Sie haben besonders fähige Leute in die Kommission geschickt. Und natürlich ist das Vereinigte Königreich eine tragende Säule der transatlantischen Beziehungen zu den USA und Kanada.
Wie verhält sich das zu Deutschland und Frankreich als Hauptachse der EU?
McAllister:Die Freundschaft der Franzosen und Deutschen ist einzigartig und bleibt der Motor der europäischen Integration. Die britisch-deutsche Verbundenheit reicht weit zurück. 1714 bestieg Kurfürst Georg Ludwig von Hannover als George I. den britischen Thron, bis 1837 waren Großbritannien und das Königreich Hannover in einer Personalunion verbunden. Die wirtschaftlichen, kulturellen und wissenschaftlichen Beziehungen unserer Länder sind besonders eng. Hunderttausende Deutsche besuchen jedes Jahr das Vereinigte Königreich, Berlin ist umgekehrt eine Attraktion für junge Briten. Eine besondere Verbindung ist die Präsenz britischer Truppen im Norden und Westen Deutschlands seit 1945 – ich selbst bin ja ein „Ergebnis“ dieser deutsch-britischen Freundschaft, weil mein Vater hier stationiert war und eine deutsche Frau geheiratet hat.
Was hieße ein Austritt der Briten für den Gebrauch der englischen Sprache – würde dann in der EU mehr Deutsch gesprochen?
McAllister: Englisch, Französisch und Deutsch sind die drei maßgeblichen Arbeitssprachen der EU. Im Europaparlament beobachte ich, dass auf Englisch letztlich sich alle einigermaßen verständigen können, wenn die Übersetzer nicht dabei sind. Das würde auch im Falle eines britischen Austritts so bleiben. Seit dem EU-Beitritt der mittel- und osteuropäischen Länder hat sich Englisch in Brüssel und Straßburg eben in der täglichen Praxis durchgesetzt. Und in Irland und Malta ist es ohnehin Amtssprache.