Berlin. Bis zu 13 Millionen Menschen weniger als heute leben im Jahr 2060 hier. Auch Zuwanderung kann den Bevölkerungsschwund nur lindern
Deutschland muss sich mit dem demografischen Wandel arrangieren; aufhalten lässt sich die dramatische Entwicklung nicht mehr. Das ist die Botschaft, die Roderich Egeler mit nach Berlin gebracht hatte, wo der Präsident des Statistischen Bundesamtes die Prognose seiner Statistiker für die Entwicklung der Bevölkerung bis 2060 vorstellte. Demnach werden in 45 Jahren hierzulande deutlich weniger Menschen leben als heute. Die Statistiker gehen davon aus, dass die Bevölkerung von heute 81 Millionen Menschen in den kommenden fünf bis sieben Jahren leicht wachsen wird, um danach stark abzunehmen: Im Jahr 2060 dürften hierzulande nur noch zwischen knapp 68 Millionen und gut 73 Millionen Menschen leben.
Wie stark die Bevölkerung innerhalb dieser breiten Spanne tatsächlich schrumpfen wird, hängt auch davon ab, wie sich Geburtenrate und Zuwanderung entwickeln. Auf eine genaue Zahl wollen sich die Statistiker, die für die Prognose vergangene Entwicklungen fortschreiben, nicht festlegen.
Im Jahr 2060 soll bereits jeder dritte Einwohner älter als 65 Jahre sein
Sicher sind sie sich allerdings, dass die Alterung der Gesellschaft nur unmerklich gebremst von Zuwanderung und familienpolitischen Maßnahmen voranschreiten wird: Während heute noch jeder Fünfte hierzulande 65 Jahre oder älter ist, soll es im Jahr 2060 bereits jeder Dritte sein. Getrieben wird diese Entwicklung von der höheren Lebenserwartung, die zudem in den kommenden Jahren weiter steigen wird: So gehen die Experten des Statistischen Bundesamtes davon aus, dass selbst bei einem moderaten Anstieg der Lebenserwartung ein im Jahr 2060 geborener Mann im Schnitt 85 Jahre alt wird und eine Frau 89 Jahre alt. Bei einem starken Anstieg, den die Demografen für durchaus wahrscheinlich halten, könnten die Männer des Jahrgangs 2060 im Schnitt 87 Jahre alt werden und die Frauen gar 90 Jahre alt. Das wäre für Männer ein Zugewinn von neun Jahren gegenüber der heutigen Sterbetafel und für Frauen von siebeneinhalb Jahren. Gleichzeitig holen die Männer die Frauen bei der durchschnittlichen Lebenserwartung ein: Noch Anfang der 90er-Jahre war die Lebenserwartung der Frauen im Schnitt zehn Jahre höher als die der Männer.
Diese Entwicklung hat erheblichen Einfluss auf den Arbeitsmarkt: Bis 2060 soll die Zahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter zwischen 20 und 64 Jahren stark schrumpfen: Je nach der Stärke der Zuwanderung würde die Zahl um 23 Prozent bis 30 Prozent sinken. Für die Sozialsysteme ist dieser Wandel eine Belastung: Kommen heute auf 100 Menschen im Erwerbsalter noch 34 Seniorinnen und Senioren, würden es 2060 bereits 60 und damit beinahe doppelt so viele sein.
Diese Entwicklung scheint gegenwärtig unumkehrbar; das illustriert der Vergleich mit der letzten umfassenden Prognose dieser Art aus dem Jahr 2009. An den Zahlen zur Alterung hat sich seitdem praktisch nichts geändert – und das, obwohl in den vergangenen Jahren unerwartet viele Zuwanderer nach Deutschland gekommen sind.
Die zusätzliche Zuwanderung vor allem aus Polen, Rumänien, Bulgarien und den Krisenländern in Südeuropa hat zwar den Bevölkerungsrückgang gebremst: Wegen der vielen Neuankömmlinge wird die Bevölkerung im Jahr 2060 rund 1,6 Millionen Menschen mehr zählen als noch bei der letzten Prognose erwartet. Allerdings werden die Zuwanderer die Alterung der Gesellschaft kaum aufhalten. „Die Renten werden von Einwanderern bezahlt“, sagt der Wissenschaftler Wilfried Bos vom Sachverständigenrat für Migration.
Zwar steigt dank junger Zuwanderer der Anteil der jungen Menschen an der Bevölkerung, und weil junge Menschen mehr Kinder bekommen, wird auch die Geburtenrate steigen. Das allein wird allerdings nicht genügen, um die fortschreitende Alterung aufzuhalten. Denn einmal in Gang gesetzt, lassen sich Bevölkerungsentwicklungen nur über sehr lange Zeiträume wieder umkehren. „Deutschland befindet sich bereits mitten im demografischen Wandel“, sagte Amtspräsident Egeler.
Daran konnten auch die familienpolitischen Initiativen der vergangenen Jahr wenig ändern: Zusätzliche Plätze für die Kinderbetreuung, das Elterngeld oder das Betreuungsgeld hätten sehr überschaubare Auswirkungen auf die Geburtenrate, sagt Olga Pötzsch, Demografie-Expertin beim Statistischen Bundesamt. Bei Frauen deutscher Staatsangehörigkeit sei die Geburtenrate seit 2009 von 1,3 auf 1,35 Kinder pro Frau gestiegen. „Das ist ganz geringfügig“, sagt Pötzsch. Zudem könnten die Statistiker diese Änderung zwar feststellen; über die Gründe könnten sie nur Vermutungen anstellen.
Das Renteneintrittsalter müsste bis 2060 auf 74 Jahre steigen
Um diesen Prozess zu ändern müssten bis 2060 jedes Jahr im Schnitt 450.000 bis 500.000 mehr Menschen nach Deutschland kommen als das Land verlassen, um die Bevölkerung hierzulande konstant zu halten. Für 2014 und 2015 gehen die Statistiker davon aus, dass jeweils eine halbe Million Menschen kommen. Bereits 2016 soll die Zahl aber wieder sinken. Tatsächlich würde auch eine stärkere Zuwanderung wenig an der Altersstruktur der Bevölkerung ändern, weil das Gros der Zuwanderer aus Mittel- und Südeuropa kommt, wo die Geburtenraten noch niedriger sind als in Deutschland.
Um die Erwerbstätigkeit deshalb auf dem heutigen Niveau zu halten, genügt mehr Zuwanderung nicht. Die Statistiker gehen davon aus, dass das Renteneintrittsalter bis 2060 auf 74 Jahre steigen müsste, damit die Erwerbstätigkeit konstant bleibt. Und auch damit wäre das Problem nur halb gelöst: Wegen der steigenden Zahl älterer Menschen wäre das Verhältnis von Erwerbstätigen und Senioren immer noch schlechter als heute.
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